FÜNF
Der Haupteingang zu Reed, Briggs, Stephens, Stottlemeyer and Compton befand sich im obersten Geschoss eines modernen, dreißigstöckigen Bürogebäudes mitten im Zentrum von Portland, doch Reed, Briggs hatte noch weitere Etagen angemietet. Eine Woche nachdem er die Kartons mit den Geller-Unterlagen in Aaron Flynns Büro abgeliefert hatte, trat Daniel um halb acht im siebenundzwanzigsten Stock aus dem Fahrstuhl. Dieses Stockwerk, in dem Daniel sein Büro hatte, konnte man nur betreten, indem man einen Code in eine Kleintastatur eingab, die neben zwei schmalen Glasflächen links und rechts von der verschlossenen Tür an der Wand angebracht war. Daniel hob die Hand zu den Tasten, als er darüber etwas bemerkte, das wie eine Art Mikrofon aussah. Daneben hing ein Zettel mit der Aufschrift: Der Zutrittscode von Reed, Briggs ist jetzt sprachgesteuert. Nennen Sie laut und deutlich Ihren Namen und sagen Sie dann: »Tür jetzt öffnen!«
Bei genauerem Hinsehen erkannte Daniel, dass das vermeintliche Mikrofon in Wahrheit ein Kronkorken von einer Saftflasche war. Jemand hatte den Metalldeckel auf einen kleinen Bleistiftspitzer aus Plastik geklebt und beide schwarz angemalt. Daniel schüttelte den Kopf und tippte seine Nummer ein. Das Schloss schnappte auf, und er öffnete die Tür. Wie er vermutet hatte, lauerte Joe Molinari hinter einer Trennwand und lugte durch die Glasscheibe, die ihm einen Blick auf die Tastatur gewährte.
»Du bist ein Arschloch«, sagte Daniel.
Molinari zog ihn mit einem Ruck hinter die Trennwand, als sich im selben Moment Miranda Baker, eine Neunzehnjährige aus der Poststelle, der Tür näherte.
»Pass auf!«, sagte Molinari.
Miranda Baker fing an, ihren Code einzugeben. Als sie das Schild sah, zögerte sie und sagte dann: »Miranda Baker. Tür jetzt öffnen.« Sie versuchte vergeblich, die Tür aufzumachen. Sie sah verwirrt aus. Molinari krümmte sich vor Lachen.
»Das ist nicht komisch, Joe. Sie ist ein nettes Mädchen.«
»Warte!«, sagte Molinari und versuchte, sein Lachen zu unterdrücken, damit Miranda Baker ihn nicht hören konnte. Sie wiederholte ihren Namen und ihren Befehl. Molinari hatte Tränen in den Augen.
»Ich werd sie rein lassen«, sagte Daniel, als im selben Augenblick Kate Ross, eine von Reed, Briggs' Hausdetektiven, aus dem Fahrstuhl stieg.
Kate kam zu Miranda, die gerade zum dritten Mal ihren Namen nannte und am Türknauf zerrte. Sie warf einen einzigen Blick auf das Schild und riss es zusammen mit dem Bleistiftspitzer und dem Kronkorken von der Wand.
»Scheiße!«, fluchte Joe.
Kate sagte etwas zu der jungen Frau. Sie schauten durch die Scheibe und sahen Joe und Daniel unfreundlich an. Miranda tippte ihren Code ein und öffnete die Tür. Sie warf den zwei Junganwälten einen wütenden Blick zu, während sie an ihnen vorbei stürmte.
Kate Ross war achtundzwanzig, knapp einssiebzig groß und sah in ihren engen Jeans, der dunkelblauen Hemdbluse und dem marineblauen Blazer sportlich aus. Kate blieb
vor den beiden stehen und hielt die Notiz, den Flaschendeckel und den Bleistiftspitzer hoch. Ihr dunkler Teint, ihre großen braunen Augen und das gelockte, schulterlange schwarze Haar erinnerten Daniel an die toughen Soldatinnen in Israel, die er in den Abendnachrichten gesehen hatte. Angesichts des strengen Blicks, mit dem sie Joe und Daniel traf, war er froh, dass sie keine Uzi bei sich trug.
»Ich glaube, das gehört Ihnen.«
Joe sah belämmert aus. Kate wandte sich an Daniel. »Wissen Sie nichts Besseres mit Ihrer Zeit anzufangen?«, fragte sie in scharfem Ton.
»Moment mal, ich hab nichts damit zu tun«, protestierte er. Kate musterte ihn skeptisch. Sie ließ den Flaschendeckel, den Spitzer und das zusammengeknüllte Schild in einen Mülleimer fallen und ging.
»Spielverderberin«, sagte Molinari, als Kate außer Hörweite war.
Daniel lief Kate hinterher und holte sie ein, als sie gerade in ein Büro trat, das sie mit einer anderen Ermittlerin teilte. »Ich hatte wirklich nichts damit zu tun«, sagte er von der Tür aus.
Kate sah von ihrer Post auf. »Was gehts mich an, wie ihr Yuppies euch amüsiert?«, sagte sie ärgerlich.
Daniel wurde rot. »Verwechseln Sie mich nicht mit Joe Molinari! Ich bin nicht mit einem Silberlöffel im Mund auf die Welt gekommen. Ich arbeite genauso hart wie Sie. Mir hat Joes Streich genauso wenig gefallen wie Ihnen. Ich wollte Miranda gerade rein lassen, als Sie aufgetaucht sind.«
»Danach sah es für mich nicht aus«, erwiderte Kate abwehrend.
»Glauben Sie meinetwegen, was Sie wollen, aber ich lüge nicht«, sagte Daniel wütend, während er auf dem Absatz kehrtmachte und über den Flur zu seinem Büro ging.
Für wichtige Amtshandlungen benutzte Reed, Briggs einen großen, holzgetäfelten Raum im neunundzwanzigsten Stock. Als Daniel dorthin eilte, wäre er beinahe mit Renee Gilchrist zusammengestoßen.
»Morgen, Renee«, sagte er und trat zur Seite, um sie vorbeizulassen. Renee machte ein paar Schritte und drehte sich dann zu ihm um.
»Daniel.«
»Ja?«
»Mr. Briggs war mit Ihrem Fairweather-Memo sehr zufrieden.«
»Wirklich? Zu mir hat er nichts gesagt.«
»Tut er doch nie.«
Die Firmenchefs sagten Daniel grundsätzlich nicht, was sie von seiner Arbeit hielten, und so war die Menge der Arbeit, die sie ihm gaben, die einzige Messlatte für ihre Einschätzung. Es dämmerte Daniel, dass Briggs ihn diesen Monat mehr als reichlich eingedeckt hatte.
»Danke, dass Sie es mir gesagt haben.«
Renee lächelte. »Sehen Sie zu, dass Sie da rein kommen! Sie fangen jeden Moment mit der Befragung an.«
Am einen Ende des Konferenzraums bot ein breites Panoramafenster eine prächtige Aussicht über den Willamette River und darüber hinaus auf den Mount Hood und den Mount St. Helens. An einer anderen Wand hing ein großes Ölgemälde der Columbia Gorge über einer Eichenkredenz. Auf der Anrichte standen Silberkannen mit Kaffee und heißem Wasser neben einer dazu passenden Platte mit Croissants und Muffins und einer anderen mit Obst. Dr. Kurt Schroeder, ein leitender Angestellter von Geller, der aussagen sollte, saß am Kopf eines riesigen Konferenztischs aus Kirschholz mit dem Rücken zum Fenster. Schroeders schmale Lippen waren zu einem strengen Strich zusammengepresst, und es war offensichtlich, dass er sich auf seinem heißen Stuhl nicht wohl fühlte.
Rechts von Schroeder saßen Aaron Flynn und drei Junioranwälte, zu seiner Linken Arthur Briggs, ein knochendürrer Kettenraucher, der immer nervös wirkte. Briggs' rabenschwarzes Haar war zurückgekämmt, sodass sein spitz zulaufender Haaransatz deutlich sichtbar war, und seine Augen waren stets in Bewegung, als erwarte er jeden Moment einen Angriff von hinten. Briggs war nicht nur einer der gefürchtetsten Anwälte in Oregon, sondern auch jemand, der überall mitmischte, von der großen Politik bis zu lokalen Angelegenheiten, vor allem bei konservativen Belangen. Daniel überlegte, ob Briggs nicht ein Soziopath war, der mit der Juristerei seine Veranlagung zum Serienkiller sublimierte.
Links von Briggs saß Brock Newbauer, ein Juniorpartner mit strahlendem Lächeln und weißblondem Haar. Brock hätte den Einstieg bei Reed, Briggs nie geschafft, wenn die Baufirma seines Vaters nicht zu den größten Klienten der Kanzlei gehört hätte.
Daniel nahm den Stuhl neben Susan Webster. Arthur Briggs warf ihm einen verärgerten Blick zu, sagte jedoch nichts. Susan kritzelte Sie kommen zu spät auf ihren Notizblock und schob ihn ein wenig in Daniels Richtung.
»Guten Morgen, Dr. Schroeder«, sagte Aaron Flynn mit einem Willkommenslächeln. Daniel legte einen Anwaltsblock auf den Tisch und fing an, sich Notizen zu machen. »Guten Morgen«, antwortete Schroeder, ohne das Lächeln zu erwidern.
»Ich schlage vor, dass Sie zunächst einmal allen hier Ihren beruflichen Hintergrund und Ihren Aufgabenbereich schildern.«
Schroeder räusperte sich. »Von Haus aus bin ich niedergelassener Kinderarzt und fungiere derzeit als Vizepräsident und leitender medizinischer Sachverständiger bei Geller Pharmaceuticals.«
»Könnten Sie uns ein wenig über Ihre Ausbildung erzählen?«
»Ich habe an der Lehigh University meinen Abschluss in Chemie und Biologie gemacht und dann an der Oregon Health Sciences University Medizin studiert.«
»Was haben Sie nach dem Medizinstudium gemacht?«
»Ich habe an der State University of New York, dem Kings County Hospital Center in Brooklyn, mein Praktikum in Pädiatrie gemacht. Nach meiner Facharztprüfung war ich Assistenzarzt am Children's Hospital of Philadelphia.«
»Was haben Sie nach Ihrer Zeit am Krankenhaus gemacht?«
»Einige Jahre lang habe ich eine eigene Praxis geführt, bevor ich dann zu Geller Pharmaceuticals gewechselt bin.«
»Als Sie zu Geller kamen, gab es da einen besonderen Produktionsschwerpunkt auf pädiatrischen Medikamenten?«
»Ja, den gab es.«
»Könnten Sie uns wohl ihren Werdegang beschreiben, seit Sie für Geller arbeiten?«
»Ich habe in der Abteilung für klinische Forschung und Produktentwicklung angefangen und habe mich dann in unterschiedlichen Funktionen allmählich hochgearbeitet; ich wurde danach zum Vizepräsidenten für medizinische Angelegenheiten und schließlich zum Vizepräsidenten der Firma ernannt. In den letzten acht Jahren war ich für die Entwicklung und Zulassung von Produkten zuständig, die wir auf den Markt gebracht haben.«
»Und das schließt Insufort ein?«
»Ja.«
»Danke, Dr. Schroeder. Ich würde nun gerne mit Ihnen darüber sprechen, welchen Weg ein Produkt von der Entwicklung bis zur Marktreife nimmt, und ich möchte Sie bitten, uns einen Einblick in die einzelnen Schritte zu verschaffen, die es durchläuft. Bin ich richtig informiert, dass der erste Schritt darin besteht, etwas zu entdecken, das von pharmakologischer Bedeutung sein könnte?«
»Ja.«
»Und dann führen Sie vorklinische Versuche durch, das heißt Studien, die nicht am Menschen betrieben werden.«
»Ja.«
»Vielmehr werden die vorklinischen Versuchsreihen mit Tieren vorgenommen.«
»Nicht unbedingt. Vor den Tierversuchen stehen möglicherweise Testreihen mit Gewebeproben oder an Zellen. Es kann auch eine Computersimulation dazugehören.«
»Okay. Aber irgendwann kommen Sie an den Punkt, an dem Sie so genannte vorklinische Versuchsreihen machen müssen, um sich ein Bild sowohl von der Unbedenklichkeit als auch der Wirksamkeit zu machen?«
»Ja.«
»Und wenn Sie vorklinische Versuche machen, werden deren Ergebnisse der Federal Drug Administration, der Bundesbehörde für Arzneimittel, zur Prüfung unterbreitet, und dieser Vorgang ist als Antrag auf die Erforschung eines neuen Arzneimittels bekannt, korrekt?“
»Ja.«
»Was genau haben wir uns unter einem solchen Antrag vorzustellen?«
»Die Bitte um eine Freistellung hinsichtlich der gesetzlichen Bestimmung, die es Ärzten oder Herstellerfirmen untersagt, Menschen im Rahmen einer klinischen Untersuchung Substanzen zu verabreichen, die nicht von der Federal Drug Administration zugelassen sind. Falls die FDA dem Antrag zustimmt, hat man die Genehmigung, mit dem Arzneimittel klinische Versuche an Menschen durchzuführen.«
»Darf ich davon ausgehen, dass Sie als leitender medizinischer Sachverständiger von Geller Pharmaceuticals mit den Ergebnissen der vorklinischen wie auch der klinischen Versuchsreihen vertraut waren, die durchgeführt wurden, um festzustellen, ob Insufort ein unbedenkliches und wirksames Produkt ist?«
»Nun, ich habe selbstverständlich die entsprechenden Studien überprüft.«
Flynn lächelte Schroeder an. »Darf ich das als ein Ja verstehen?«
»Einspruch«, sagte Briggs und meldete sich damit zum ersten Mal zu Wort. »Dr. Schroeder hat nicht gesagt, dass er jede einzelne Studie und sämtliche Unterlagen dazu gelesen hat.«
»Das stimmt«, sagte Schroeder.
»Nun, Geller Pharmaceuticals hat umfangreiche Versuche an Nagetieren durchgeführt, nicht wahr?«
»Ja.«
»Sie waren mit den Ergebnissen vertraut?«
»Ja.«
»Und es gab Versuchsreihen mit Primaten, mit trächtigen Affen?«
»Ja.«
»Und auch deren Ergebnisse waren Ihnen bekannt?«
»So ist es.«
»Und es hat klinische Untersuchungen der Phase eins an Menschen gegeben?«
»Ja.«
»Und auch von deren Ergebnissen hatten Sie Kenntnis?«
»Ja.«
»Bitte sagen Sie mir, Dr. Schroeder, hat irgendeine der vorklinischen und der klinischen Studien gezeigt, dass Insufort Missbildungen verursachen kann?«
»Nein, keine.«
Flynn sah ihn überrascht an. »Keine?«, fragte er nach. »Nein, keine.«
Flynn drehte sich zu der jungen Frau neben ihm um. Sie reichte ihm ein einseitiges Dokument. Er überflog es für einen Moment und wandte seine Aufmerksamkeit dann wieder Dr. Schroeder zu.
»Und was ist mit den Versuchen von Dr. Sergey Kaidanov?«, fragte Flynn.
Schroeder wirkte ratlos.
»Haben Sie unter Ihren Mitarbeitern einen Wissenschaftler namens Dr. Sergey Kaidanov?«
»Dr. Kaidanov? Ja, der arbeitet für unsere Firma.«
»In der Forschung und Entwicklung?«
»Soviel ich weiß, ja.«
Flynn nickte, und der Anwalt zu seiner Rechten schob Kopien des Dokuments, das Flynn in der Hand hielt, über den Konferenztisch, während Flynn eine davon dem Zeugen reichte.
»Dies bitte als Beweisstück der Anklage Nummer zweihundertvierunddreißig kennzeichnen. Ich habe Kopien davon dem Rechtsbeistand und Dr. Schroeder ausgehändigt.«
»Woher haben Sie das?«, fragte Briggs, sobald er die Seite überflogen hatte.
Flynn lächelte und wies mit einer Geste auf Daniel.
»Das befand sich in den Akten, die mir der junge Mann dort vor ein paar Tagen in mein Büro brachte.«
Aller Augen ruhten jetzt auf Daniel Arnes, der es nicht bemerkte, da er das Beweisstück der Anklage Nummer zweihundertvierunddreißig las - offenbar der Begleitbrief zu einem Bericht, den Dr. Sergey Kaidanov an George Fournet von Gellers Rechtsabteilung geschickt hatte.
Sehr geehrter Mr. Fournet,
aufgrund der Ergebnisse unserer Versuchsreihe zu kongenitalen Anomalien bei trächtigen Primaten hege ich große Bedenken hinsichtlich Thalglitazon (Handelsname Insufort). Wir haben bislang die Auswirkungen einer oralen Dosis von einhundert Mikrogramm pro Kilogramm Körpergewicht -dreizehn Tage lang ab dem dreißigsten Tag nach der Konzeption verabreicht - auf die Föten trächtiger Rhesusaffen untersucht. Die ersten Ergebnisse sind auffällig: Achtzehn von vierzig neugeborenen Primaten (fünfundvierzig Prozent) wurden mit maxillofacialen Anomalien geboren, unter denen einige schwere Fälle sind, der schwerste eine vollständige Lippen- und Gaumenspalte. Es ist mir unverständlich, dass dies bei den Studien an Nagetieren nicht aufgetreten ist, doch wie wir alle wissen, kommt so etwas zuweilen vor.
Dieses Schreiben wie auch die beigefügten vorläufigen Ergebnisse dienen dem Zweck, Sie auf meine Feststellungen aufmerksam zu machen, da ich glaube, dass sie wichtige Konsequenzen für unsere laufenden Studien Phase zwei und drei am Menschen haben. Ich werde detaillierte anatomische und biochemische Analysen an Sie weiterleiten, sobald meine Versuchsreihe abgeschlossen ist.
Daniel war entgeistert. Kaidanovs Brief war der schlagende Beweis, der rauchende Colt, der Geller zu Fall bringen konnte, und Aaron Flynn hatte soeben Arthur Briggs mit-geteilt, dass er die tödliche Waffe aus Daniels Hand empfangen habe.
SECHS
Während Daniel den Brief in schockiertem Schweigen las, flogen Susan Websters Finger über die Tastatur ihres Laptops.
»Ich habe ein paar Fragen zu diesem Dokument, Dr. Schroeder«, sagte Aaron Flynn in freundlichem Ton.
Susan schlich sich zu Arthur Briggs hinüber und machte ihn stumm auf einen Fall aufmerksam, den sie auf ihrem Computer abgerufen hatte. Sie flüsterte ihm hastig etwas ins Ohr, und Briggs rief: »Einspruch! Das hier ist eine vertrauliche Mitteilung von Dr. Kaidanov an seinen Anwalt, die Ihnen versehentlich ausgehändigt wurde. Sobald Ihnen klar war, dass dieses Schriftstück ausschließlich der Verständigung zwischen Anwalt und Klienten diente, waren Sie moralisch verpflichtet, den Brief unberücksichtigt zu lassen und nicht einmal zu lesen.«
Flynn lachte leise. »Arthur, das ist der Bericht über die Ergebnisse einer vorklinischen Versuchsreihe an Rhesusaffen. Ihr Klient hat, vermutlich auf Ihren Rat hin, seine Wissenschaftler angewiesen, ihre gesamten Testergebnisse an die Rechtsabteilung zu schicken, damit Sie gegen unsere Fragen zur Offenlegung diesen albernen Einspruch einlegen können, aber das ist nun wirklich zu durchsichtig, um ernst genommen zu werden.«
»Sie werden das verdammt ernst nehmen, wenn ich Sie dem Disziplinarausschuss der Anwaltskammer melde.« Flynn lächelte. »Tun Sie, was Sie für richtig halten, Arthur.«
Flynn nickte, und einer seiner Anwälte ließ mehrere Kopien eines juristischen Dokuments über die polierte Tisch-platte gleiten.
»Bitte nehmen Sie zu Protokoll, dass ich bei Dr. Schroeder und seinem Rechtsbeistand soeben die Vorlage der Studie von Dr. Kaidanov und aller zugehörigen Unterlagen sowie die Vorladung von Dr. Kaidanov und Mr. Fournet beantragt habe.«
Flynn wandte sich wieder dem Zeugen zu. »Dr. Schroeder, ich würde Ihnen jetzt gerne ein paar Fragen zur Kaidanov-Studie stellen.«
»Sie sagen kein Wort!«, schrie Briggs den Zeugen an. »Arthur, Dr. Schroeder steht unter Eid, und wir sind mitten in seiner eidlichen Aussage.«
Flynns Ton war ruhig und herablassend, was Briggs' Blutdruck noch ein gutes Stück ansteigen ließ. »Ich muss mit Richter Norris sprechen.« Eine Ader an Briggs' Schläfe sah so aus, als könnte sie jeden Moment platzen. »Ich will eine richterliche Verfügung in der Sache, bevor ich zulasse, dass Dr. Schroeder schon jetzt alle Karten auf den Tisch legt.«
Flynn zuckte die Achseln. »Meinetwegen rufen Sie den Richter an.«
Daniel bekam von dem, was Briggs und Flynn sagten, kaum etwas mit. Er konnte an nichts anderes denken als an seine Vorgehensweise bei der Durchsicht der Unterlagen. Wie hatte er Kaidanovs Brief übersehen können? Er hatte viele der Dokumente nur überflogen, aber er hatte vor allem nach vertraulichen Informationen Ausschau gehalten. Ein Brief an einen Anwalt hätte sämtliche Alarmglocken läuten lassen. Es schien einfach unmöglich, dass ihm so etwas durchgegangen sein sollte, aber genau das war offenbar passiert. Daniel war völlig am Boden zerstört. Jeder machte Fehler, aber für einen Irrtum einer solchen Größenordnung verantwortlich zu sein ...
Sobald Richter Norris mit dem Konferenzraum verbunden war, unterbreiteten ihm Flynn und Briggs nacheinander die jeweiligen juristischen Argumente, die ihren Standpunkt in Sachen Kaidanov untermauerten. Der Richter war zu beschäftigt, um sich mit einer derart komplexen Materie übers Telefon auseinander zu setzen. Er wies die Anwälte an, die Befragung Schroeders bis zu seiner Entscheidung auszusetzen, und von Briggs wie auch Flynn forderte er eine kurze schriftliche Darlegung ihrer jeweiligen Auffassungen bis Ende der Woche.
Sobald Flynn und seine Speichellecker den Konferenzraum verlassen hatten, hielt Briggs Schroeder den Kaidanov-Brief wütend unter die Nase.
»Was ist das, Kurt?«
»Ich habe keine Ahnung, Arthur.«
Der Geller-Vize schien genauso aufgebracht wie sein Anwalt. »Ich sehe diesen verdammten Wisch zum ersten Mal im Leben.«
»Aber Sie kennen diesen Kaidanov?«
»Ich weiß, wer das ist. Er arbeitet in Forschung und Entwicklung. Ich kenne ihn nicht persönlich.«
»Und er arbeitet mit diesen Affen?«
»Nein, jedenfalls nicht, dass ich wüsste.«
»Was genau bedeutet nicht, dass ich wüsste? Sie verschweigen mir doch wohl hoffentlich nichts? Dieser Brief kann Ihre Firma Millionen kosten, wenn Sie Glück haben, und Geller den Garaus machen, wenn Sie Pech haben.« Schroeder schwitzte. »Ich schwöre, Arthur, ich habe von keiner einzigen Studie gewusst, die wir in Auftrag gegeben hätten und bei der solche Ergebnisse herausgekommen wären. Wofür halten Sie uns? Wenn ich von einer Versuchsreihe zu Insufort mit solchen Erkenntnissen Wind bekommen hätte, meinen Sie allen Ernstes, ich hätte dann grünes Licht für die klinischen Tests gegeben?«
»Ich möchte umgehend mit Kaidanov und Fournet sprechen, noch heute Nachmittag«, sagte Briggs.
»Ich ruf mein Büro an und lasse einen Termin machen.« Als Schroeder zu der Kredenz hinüberging und die Nummer seines Büros eingab, wandte sich Briggs zu Daniel um, der versucht hatte, möglichst nicht aufzufallen. Briggs streckte ihm seine Kopie des Kaidanov-Briefs entgegen, die ziemlich mitgenommen aussah.
»Erklären Sie das, Arnes!«, verlangte er in einem sanften Ton, der beängstigender war als das Donnerwetter, mit dem er gerechnet hatte.
»Ich ... huh, Mr. Briggs ... Ich seh das zum ersten Mal.«
»Zum ersten Mal«, sprach Briggs nach. »Hat Flynn gelogen, als er sagte, Sie hätten ihm das hier gebracht?«
Daniel sah zu Susan hinüber. Sie wandte den Blick ab, doch ihre Körpersprache zeigte, dass sie Angst hatte. Daniel drehte sich wieder zu Briggs um.
»Nun?«, fragte Briggs, schon ein bisschen lauter.
»Er hat das nicht wörtlich gemeint, Mr. Briggs. Ich sollte fünf Kartons mit Unterlagen überprüfen, die Geller im Zusammenhang mit der Offenlegungsforderung beigebracht hatte.«
Daniel war der Einzige, der mitbekam, wie Susan durchatmete. »Ich sollte die Unterlagen gleich morgens bis spätestens acht abliefern. Ich bekam die Kartons erst am Abend davor um acht. Es waren ungefähr zwanzigtausend Seiten. Ich bin die ganze Nacht im Büro geblieben, ich habe sogar hier geschlafen. Es waren zu viele Seiten, um in der kurzen Zeit jede einzeln durchzusehen.“
»Und das ist Ihre Entschuldigung?«
»Es ist keine Entschuldigung. Niemand hätte in der Zeit, die mir zur Verfügung stand, jede Seite in diesen Kartons durchlesen können.«
»Sie sind aber kein niemand, Arnes. Sie sind ein Reed-Briggs-Anwalt. Wenn wir Nobodys haben wollten, würden wir Minimallöhne zahlen und uns Leute von den unbedeutenden Fernuniversitäten holen.«
»Mr. Briggs, es tut mir Leid, aber ...«
»Meine Sekretärin wird die Gesprächstermine arrangieren«, sagte Schroeder und legte den Hörer auf. Zu Daniels unendlicher Erleichterung lenkte Schroeders Bemerkung Briggs ab.
Schroeder las noch einmal Kaidanovs Brief. Als er fertig war, hielt er ihn hoch. Er sah finster aus.
»Ich glaube, das ist ein Schwindel. Wir haben niemals eine Studie mit solchen Ergebnissen durchgeführt«, erklärte er entschieden. »Da bin ich mir sicher.«
»Gebe es Gott, dass Sie Recht haben!«, sagte Briggs. »Wenn Richter Norris diesen Brief bei Gericht zulässt und wir nicht beweisen können, dass er gefälscht ist, dann werden Sie und jeder andere bei Geller Pharmaceuticals demnächst Schnürsenkel verkaufen.«
Briggs brachte Newbauer und Schroeder hinaus. In der Hoffnung, Briggs könne ihn übersehen, hielt sich Daniel im Hintergrund, doch sein Chef blieb an der Tür stehen und warf ihm einen vernichtenden Blick zu.
»Wir sprechen uns noch«, sagte er.
Die Tür ging zu, und Daniel blieb allein im Konferenzraum zurück.
SIEBEN
Daniel wartete den ganzen Nachmittag auf seinen Rausschmiss. Gegen zwei wählte er Susans Büronummer, um den neusten Stand der Dinge zu erfahren, doch ihre Sekretärin teilte ihm mit, sie habe Arthur Briggs zu Geller Pharmaceuticals begleitet. Eine Stunde später, als ihm klar wurde, dass er nicht imstande war zu arbeiten, machte sich Daniel auf den Weg zu seinem Einzimmerappartement im dritten Stock eines alten Ziegelbaus im Nordwesten von Portland. Seine Wohnung war klein und nur spärlich mit den Sachen eingerichtet, die er aus seiner Studentenbude in Eugene mitgebracht hatte. Das einzig Attraktive daran war die Lage in der Nähe der nordwestlichen Einundzwanzigsten und der Dreiundzwanzigsten Straße mit ihren Restaurants, Geschäften und dem Menschengetümmel. Doch heute hätte Daniel im Herzen von Paris wohnen können, und er hätte keine Notiz davon genommen. Arthur Briggs würde ihn feuern, so viel stand fest. Alles, wofür er gearbeitet hatte, würde durch ein einziges Stück Papier zunichte.
Und noch etwas machte Daniel zu schaffen. Er hatte solche Angst davor gehabt, entlassen zu werden, dass ihm die ganze Tragweite von Dr. Sergey Kaidanovs Brief erst dämmerte, als er mit geschlossenen Augen im Bett lag. Bis er den Brief gelesen hatte, war Daniel davon überzeugt gewesen, dass Aaron Flynns Klage im Namen von Toby Moffitt, Patrick Cummings und der anderen Kinder, die Insufort angeblich geschädigt hatte, wenig ehrenhaft war. Wenn er sich nun geirrt hatte? Wenn Geller Pharmaceuticals nun wissentlich ein Produkt verkaufte, das unschuldige Babys verkrüppelte? Daniel gehörte einem Team an, das Geller vertrat. Wenn der Konzern in vollem Wissen für das entsetzliche Geschick verantwortlich war, das Patrick Cummings getroffen hatte, und Daniel weiter an der Verteidigung dieser Firma mitarbeitete, würde er einem schrecklichen Unternehmen Hilfe und Vorschub leisten.
Daniel warf sich die ganze Nacht hin und her und stand wie gerädert auf, nachdem sein Wecker geklingelt hatte. Als er am frühen Morgen das Büro von Reed, Briggs betrat, war er sicher, dass jeder in der Kanzlei über seinen folgenschweren Fehler Bescheid wusste. Es gelang ihm, vom Fahrstuhl bis zu seinem Büro zu kommen, ohne jemandem über den Weg zu laufen, doch er saß kaum hinter seinem Schreibtisch, als Joe Molinari herein marschierte und die Dinge unaufhaltsam den Bach runtergingen.
»Was hast du für Scheiße gebaut?«, fragte Molinari mit gedämpfter Stimme, kaum dass er die Tür hinter sich geschlossen hatte.
»Was meinst du damit?«, fragte Daniel nervös.
»Es geht das Gerücht, Briggs hätte eine Kröte von der Größe eines Tyrannosaurus Rex geschluckt, und du hättest sie ihm auf dem Silbertablett serviert.«
»Mist.«
»Dann stimmt es also.«
Daniel fühlte sich völlig am Boden.
»Was ist passiert?«
»Ich möchte nicht darüber reden.«
»Hör mal, Compadre, ich will dir helfen.«
»Das weiß ich zu schätzen, aber ich möchte im Moment lieber allein sein.“
»Wie du willst«, sagte Molinari unwillig. Er stand auf. »Aber vergiss nicht, was ich gesagt habe. Wenn ich irgendwas für dich tun kann, sags mir!«
Molinari ging. Daniel war erschöpft, obwohl der Tag kaum begonnen hatte. Plötzlich wurde ihm bewusst, dass er irgendwie nicht dazu gekommen war, mit Susan über ihre Rolle in dem Offenlegungsfiasko zu reden. Wenn Susan zu Briggs ginge und ihm sagte, dass es zum Teil ihre Schuld war, könnte das hilfreich sein, und nach dem, was Molinari gesagt hatte, war er auf jede Hilfe dringend angewiesen.
Daniel ging zu Susans Büro. Sie trug eine cremefarbene Bluse und einen grauen Hosenanzug und wirkte so frisch und unbeschwert wie jemand, der vierundzwanzig Stunden geschlafen hatte.
»Susan?«
»Oh, hi«, antwortete sie mit einem Lächeln.
»Haben Sie einen Moment Zeit?«
Daniel steuerte auf einen Stuhl zu.
»Ehrlich gesagt, nein.« Daniel blieb auf halbem Weg stehen. »Arthur braucht das hier bis gestern.«
»Ich muss wirklich mit Ihnen reden.«
»Das ist nicht der richtige Moment«, sagte sie entschieden. Ihr Lächeln wirkte jetzt ein wenig angespannt.
»Ich hatte gehofft, Sie würden Arthur sagen, dass die Durchsicht der Offenlegungsunterlagen eigentlich Ihre Aufgabe war und dass ich Ihnen nur ausgeholfen habe.«
Susan sah ihn überrascht an, so als ob ihr der Gedanke völlig abwegig erschien.
»Wieso sollte ich?«
»Damit er weiß, wie viel Arbeit das war und dass ich erst im letzten Moment damit anfangen konnte«, erwiderte Daniel, sehr darum bemüht, seinen Ärger im Zaum zu halten. »Selbst wenn die Durchsicht eigentlich meine Aufgabe war, sind Sie es nun mal gewesen, der sie erledigt hat«, antwortete Susan abwehrend. »Wenn ich es Arthur sage, erreichen wir damit nur, dass ich auch noch in Schwierigkeiten komme.«
»Wenn Briggs wüsste, dass wir beide schuld sind, würde es mich etwas entlasten.«
Susan sah nervös aus. »Ich hab die Unterlagen nicht durchgesehen. Ihnen ist der Brief durchgegangen.«
»Das wäre Ihnen genauso passiert. Das wäre selbst Briggs passiert.«
»Sie haben Recht«, gab Susan hastig zu. »Sehen Sie, ich glaub, es wird nicht so schlimm für Sie. Arthur ist schnell auf achtzig, aber dieser ganze Schlamassel wird ihn ablenken, und er wird vergessen, wer den Brief übersehen hat.«
»Das glauben Sie doch wohl selber nicht.«
»Oder er sieht ein, dass Sie Recht haben. Dass der Brief die Nadel im Heuhaufen war, die niemand hätte finden können, wenn er nicht unglaubliches Glück gehabt hätte. Sie müssen sich keine Sorgen machen.«
»Sie sind diejenige, die sich keine Sorgen zu machen braucht«, sagte Daniel mit einer Spur Bitterkeit. »Sie würde er nie feuern.«
Susan wirkte sehr verlegen. »Ich muss jetzt wirklich diese Arbeit hier fertig machen. Es geht um die Gerichtsverwertbarkeit von Kaidanovs Brief. Können wir später darüber reden?«
»Wann? Wenn ich meinen Job verloren habe?«
»Ich meine es ernst, Daniel. Ich ruf Sie an, sobald ich ein bisschen Luft habe.«
Daniel war außerstande, sich auf den Schriftsatz zu konzentrieren, den er verfassen sollte, da seine Gedanken immer wieder um den Insufort-Fall kreisten. Er konnte einfach nicht glauben, dass Geller absichtlich ein Produkt verkaufte, das die entsetzlichen Folgen mit sich brachte, von denen er sich in Aaron Flynns Büro mit eigenen Augen hatte überzeugen können. Er hatte schon einige der leitenden Angestellten von Geller kennen gelernt. Das waren keine Monster. Die Forschungsergebnisse, von denen Kaidanov berichtete, mussten eine Ausnahme sein.
Daniel klickte den Schriftsatz weg und öffnete eine Datei, die sämtliche Insufort-Studien enthielt. Er fing mit den frühesten an und arbeitete sich durch in der Hoffnung, irgendetwas zu finden, das ihm weiterhelfen könnte. Als er bei der letzten Versuchsreihe anlangte, war es fast ein Uhr. Ihm fiel Susans Versprechen ein, ihn anzurufen, wenn sie mit ihrer Arbeit fertig war. Er tippte Susans Durchwahl ein und erfuhr von ihrer Sekretärin, dass sie schon gegangen sei und heute nicht mehr im Büro erwartet werde. Daniel war nicht überrascht. Im Grunde hatte er gewusst, dass Susan gar nicht daran dachte, ihm zu helfen. Wenn er seinen Job bei Reed, Briggs behalten wollte, dann hatte er sich selbst zu helfen. Aber wie?
Er musste auf einmal lachen. Die Antwort war so nahe
liegend. Sergey Kaidanov hatte den Bericht geschrieben, der die Geller-Verteidigung zu torpedieren drohte. Kaidanovs Studie musste sich als fragwürdig erweisen. Wenn er herausfand, warum Kaidanov sich geirrt hatte, dann konnte er möglicherweise den Prozess retten und - vielleicht auch seinen Job.
Daniel wählte Geller Pharmaceuticals und wurde mit der Vorzimmerdame der Abteilung für Forschung und Entwicklung verbunden.
»Dr. Kaidanov ist im Moment nicht erreichbar«, sagte sie. »Wann ist er wieder da?«
»Kann ich leider nicht sagen.«
»Ich bin Anwalt bei Reed, Briggs, Stephens, Stottlemeyer and Compton, der Kanzlei, die Geller Pharmaceuticals vertritt, und ich muss mit Dr. Kaidanov über eine sehr wichtige Angelegenheit in Verbindung mit einem Verfahren sprechen, das gegen Ihre Firma angestrengt worden ist.«
»Ich bin angewiesen, alle Anrufe für Herrn Dr. Kaidanov an Herrn Dr. Schroeder weiterzuleiten. Darf ich Sie mit seinem Büro verbinden?«
»Ich möchte Herrn Dr. Schroeder nicht stören, ich weiß, wie beschäftigt er ist. Ich würde lieber persönlich mit Herrn Dr. Kaidanov reden.«
»Nun, das ist leider nicht möglich. Er ist nicht da, und er ist seit über einer Woche nicht mehr aufgetaucht.«
»Ist er in Urlaub?«
»Dazu ist mir nichts bekannt, da müssen Sie Herrn Dr. Schroeder fragen. Soll ich Sie durchstellen?«
»Eh, nein, nicht nötig. Vielen Dank!«
Daniel rief die Auskunft an und fand heraus, dass Sergey Kaidanov eine nicht verzeichnete Telefonnummer hatte. Er überlegte für einen Moment und rief dann die Personalabteilung bei Geller Pharmaceuticals an.
»Ich brauche eine Adresse und Telefonnummer, und zwar von Dr. Sergey Kaidanov«, sagte er zu der Angestellten, die den Anruf entgegennahm. »Er arbeitet in der Forschungs- und Entwicklungsabteilung.«
»Die Information kann ich nicht am Telefon herausgeben.« Daniel hätte verzweifeln können. Er musste diesen Kaidanov erreichen.
»Hören Sie«, sagte er energisch, »George Fournet von der Rechtsabteilung am Apparat. Wir haben gerade eine Vorladung für Kaidanov auf den Tisch bekommen. Er ist nicht im Büro, und ich muss ihn auf der Stelle erreichen. Wenn er zu seiner Aussage nicht erscheint, wird der Richter uns das als Missachtung des Gerichts auslegen. Ich habe hier einen Boten, der darauf wartet, die Vorladung persönlich auszuhändigen, aber er steht hier wie bestellt und nicht abgeholt.«
»Ich bin nicht sicher ...«
»Kann ich wohl Ihren Namen erfahren?«
»Bea Twiley.«
»Und haben Sie verstanden, wer ich bin, Ms. Twiley, George Fournet? Ich bin Leiter der Rechtsabteilung, und ich vergeude nicht meine Zeit mit belanglosen Telefonaten. Möchten Sie vielleicht vor Gericht erscheinen und Ivan Norris, dem Distriktrichter der Vereinigten Staaten, erklären, wieso Sie anstelle von Dr. Kaidanov kommen?“
ACHT
Es war kurz nach drei, als Daniel Sergey Kaidanovs unscheinbaren, grauen Bungalow in einer heruntergekommenen Gegend am Ostufer des Willamette River fand. Die Farbe blätterte ab, und der Rasen im Vorgarten war eine ganze Weile nicht mehr gemäht worden. Es war nicht gerade das Domizil, in dem er einen wissenschaftlichen Forscher vermutet hätte, der für einen prosperierenden Pharmakonzern arbeitete.
Das Wetter war umgeschlagen und die Straße menschenleer. Daniel parkte ein Stück weiter weg und betrachtete das Haus. An der Eingangsseite waren die Jalousien heruntergelassen, und die alten Zeitungen, die auf dem Rasen herumlagen, deuteten darauf hin, dass niemand da war. Er zog die Schultern hoch, um sich gegen den Wind zu schützen, und er zitterte, als er auf dem Weg zu Kaidanovs Haustür ging. Nachdem er dreimal geläutet hatte, gab er auf. Er hob die Metallklappe des Briefschlitzes und sah in den Flur. Die Post lag über den Boden verstreut.
Daniel folgte den Steinplatten, die um das Haus herumführten. Ein niedriger Maschendrahtzaun schützte einen kleinen, verwilderten Garten. Daniel öffnete das Gatter und ging zur Hintertür. Am Küchenfenster waren die Rollos herabgelassen. Er klopfte ein paarmal an und drehte dann am Knauf. Die Tür ließ sich öffnen. Er wollte gerade Kaidanovs Namen rufen, als er das Chaos in der Küche sah. Schränke und Schubladen standen offen, und ihr Inhalt lag über den Boden verstreut. Daniel nahm den Raum langsam in Augenschein. Die Arbeitsplatte war von einer Staubschicht bedeckt. Im Spülbecken türmte sich schmutziges Geschirr. Daniel trat vorsichtig über Glas- und Porzellanscherben und machte den Kühlschrank auf. Der säuerliche Geruch von verdorbenen Lebensmitteln schlug ihm entgegen. Ein Stück Käse war von graugrünem Schimmel überzogen. Daniel öffnete eine Flasche schlecht gewordene Milch und verzog die Nase.
Die Küche führte in ein kleines Wohnzimmer. Mit Ausnahme einer teuren Stereoanlage, die aus dem Wandschrank gerissen worden war, schien die übrige Einrichtung secondhand zu sein. Überall lagen CDs herum. Daniel sah eine Menge klassische Musik und ein bisschen Jazz.
Eine Wand nahm ein Bücherregal ein, dessen Inhalt jedoch über das Zimmer verstreut lag. Die meisten Titel hatten mit Chemie und Mikrobiologie zu tun. Daniel entdeckte ein paar Unterhaltungsromane und einige Bücher über Glücksspiel und über Mathematik.
Der Inhalt einer Hausbar lag zwischen den Büchern und den CDs auf dem Hartholzparkett. Die meisten Flaschen enthielten Scotch, und viele waren leer. Auf dem Barschrank hatte sich noch mehr Staub gesammelt; ein gerahmtes Foto zeigte einen leicht übergewichtigen Mann etwa Anfang vierzig in Sportkleidung. Neben ihm stand eine attraktive Frau in einem freizügigen Sommerkleid. Sie lächelten in die Kamera. Das Bild mochte vor einem Casino in Las Vegas entstanden sein.
Daniel drehte sich langsam um seine Achse und ließ das Zimmer auf sich wirken. Das konnte kein Zufall sein: Zwischen Kaidanovs Verschwinden, dem Einbruch in sein Haus, bei dem offenbar alles auf den Kopf gestellt worden war, und der Primatenstudie musste es einen Zusammenhang geben.
Ein kurzer Flur führte zum Schlafzimmer. Daniel trat vor- sichtig ein, als ob dort eine verstümmelte Leiche herumliegen würde. Decken und Bettwäsche waren zu einem Haufen auf den Boden geworfen, die Matratze des Doppelbetts war herausgenommen, ebenso die Schubladen einer Kommode. Hemden, Unterwäsche und Socken waren über das Zimmer verteilt. Die Türen zu einem begehbaren Kleiderschrank standen offen, in ihm war augenscheinlich alles gründlich durchwühlt worden.
Auf der anderen Seite des Flurs befand sich ein kleines Arbeitszimmer. Auch hier hatte jemand Bücher aus dem Regal gerissen, doch Daniels Blick fiel auf einen Monitor auf Kaidanovs Schreibtisch. Irgendwie wirkte er, da er offensichtlich noch an seinem angestammten Platz stand, inmitten des Durcheinanders deplatziert. Daniel setzte sich und schaltete den Computer ein. Kaum hatte er ihn hoch-gefahren, versuchte er, das Programm zu starten, doch er brauchte ein Passwort. Falls Kaidanov Informationen über seine Studie zu Hause aufbewahrte, waren sie zweifellos auf seinem Computer zu finden. Aber wie kam er rein?
Daniel schaltete den PC wieder aus und zog den Rechner unter Kaidanovs Schreibtisch hervor. Mit dem Schraubenzieher an seinem Schweizer Taschenmesser öffnete er die Blechhülle und nahm sie ab. Er legte den Rechner auf die Seite, damit er die Hauptplatine sehen konnte, die die Elektronik enthielt. Neben der Platine befand sich das Gestell mit der Festplatte, die mit einem Bandkabel und einem Elektrokabel an der Platine befestigt war. Daniel zog die Kabel heraus und lockerte noch zwei Schrauben an dem Gestell. Dann richtete er den Rechner auf und öffnete zwei weitere Schrauben auf der anderen Seite. Als er die Schrauben entfernt hatte, zog er die Festplatte behutsam aus dem Gestell. Sie bestand aus einer in massives, schwarzes Metall gefassten grünen Leiterplatte etwa von der Größe eines Buchs. Daniel wickelte sie in sein Taschentuch und steckte sie in die Jackentasche.
Er setzte den Rechner wieder zusammen und wollte ihn gerade wieder unter den Schreibtisch schieben, als ihn das deutliche Geräusch einer über den Holzboden rollenden Flasche zusammenzucken ließ. Ihm fiel ein, dass die Alkoholflaschen im Wohnzimmer lagen und er somit in der Falle saß, denn er musste, um entweder zur Haustür oder zur Gartentür zu kommen, durchs Wohnzimmer.
An der Flurwand erschien ein Schatten. Daniel konnte den Schirm einer Baseballkappe ausmachen, doch der Schatten war zu undeutlich, um mehr zu erkennen. Leise schob Daniel die Tür fast zu. Der Schatten wanderte die Wand entlang in seine Richtung. Daniel hielt den Atem an. Falls der Eindringling ins Schlafzimmer ging, war es vielleicht möglich, durch den Flur an ihm vorbeizuschleichen. Falls er allerdings zuerst ins Arbeitszimmer kam ... Daniel öffnete die große Klinge seines Taschenmessers.
Durch den schmalen Türspalt beobachtete er, wie eine Gestalt in Jeans und Lederjacke mit abgewandtem Gesicht zwischen den beiden Zimmern stehen blieb. Der Eindringling zögerte, und dann krachte die Arbeitszimmertür mit solcher Wucht in Daniel hinein, dass ihm für einen Moment der Atem stockte. Bevor er recht begriff, was los war, fühlte er, wie ihm das Handgelenk nach hinten gebogen und ihm mit einem Tritt die Füße weggerissen wurden. Das Messer flog ihm aus der Hand.
Während Daniel zu Boden ging, gab er einen Fausthieb zurück, von dem sein Angreifer aufstöhnte. Der Griff um seinen Arm lockerte sich, er konnte sich losreißen und auf die Knie hochrappeln. Im selben Moment landete ein gegnerisches Knie in seinem Gesicht. Daniel packte seinen Angreifer am Bein, kam auf die Füße und verdrehte das Bein. Der andere ging zu Boden, und Daniel stürzte, den Kopf in die Lederjacke gedrückt, über ihn. Ein Schlag traf ihn am Ohr. Er wechselte in eine Stellung, in der er zurückschlagen konnte, und richtete sich auf. Als er das Gesicht seines Angreifers sah, bremste er seinen Fausthieb und guckte verdutzt.
»Kate?«
Kate Ross starrte Daniel an. Falls sie darüber erleichtert war, dass sie es nicht mit einem Psychopathen zu tun hatte, ließ sie es sich nicht anmerken.
»Was zum Teufel treiben Sie hier?«, fragte sie wütend. »Dasselbe könnte ich Sie fragen«, schnauzte Daniel zurück. »Ich arbeite an einem Fall für Arthur Briggs.«
»Falls Sie Kaidanov suchen, er ist nicht hier.«
Kate versetzte Daniel einen nicht eben sanften Schlag auf die Schulter.
»Runter von mir!«
Daniel stand auf, und Kate kam auf die Beine.
»Woher haben Sie gewusst, dass jemand hinter der Tür steht?«, fragte er.
»Ich hab gesehen, wie Sie sie zugeschoben haben.«
»Ach so.«
»Haben Sie dieses Chaos angerichtet?«, fragte Kate, als sie sich im Arbeitszimmer umschaute.
»Es war schon so, als ich reinkam.«
Kate kam ins Wohnzimmer und schaute ins Schlafzimmer. Schließlich sagte sie: »Verschwinden wir besser, bevor jemand den Notruf alarmiert!«
Kate und Daniel verabredeten sich im Starbucks am Pioneer Square, einem großen gepflasterten Platz im Stadtzentrum. Daniel parkte den Wagen und fand einen Tisch an einem Fenster. Als Kate eintrat, saß er bei einer Tasse Kaffee und betrachtete eine Gruppe Teenager, die, ohne auf die Kälte zu achten, auf dem Platz herumalberten.
»Die ist für Sie«, sagte Daniel und wies auf eine Tasse Kaffee, die er für Kate bestellt hatte.
»Können Sie den Bruch rechtfertigen?«, fragte Kate, ohne Daniels Friedensangebot eines Blickes zu würdigen. »Ja, sobald Sie die Bedrohung mit tätlichem Angriff gerechtfertigt haben«, antwortete Daniel, den Kates kurz angebundene Art auf die Palme brachte.
»Wenn jemand das Messer gegen einen zieht, ist es Notwehr und kein tätlicher Angriff.«
Daniel schüttelte sein immer noch schmerzendes Handgelenk. »Wo haben Sie diesen Judomist gelernt?«
»Ich war Polizistin, bevor ich bei Reed, Briggs anfing.« Daniel zog überrascht die Augenbrauen hoch. »Ich kenne immer noch den Beamten im Einbruchsdezernat. Im Moment bin ich mir noch nicht sicher, ob ich ihn anrufen soll.«
»Wieso wollen Sie sich selber verpfeifen? Soviel ich weiß, hat Sie niemand in Kaidanovs Haus eingeladen.«
»Geller Pharmaceuticals ist ein Klient von Reed, Briggs. Kurt Schroeder hat uns autorisiert, das Haus zu betreten und uns um Gellers Eigentum zu kümmern. Also, fangen wir noch mal von vorne an! Was hatten Sie in Kaidanovs Haus zu suchen?«
»Haben Sie gehört, was bei der eidesstattlichen Befragung im Fall Geller passiert ist?«, fragte Daniel mit einer Mischung aus Nervosität und Verlegenheit.
»Dan, jeder in der Firma weiß, welchen Mist Sie da gebaut haben. Das war gestern Tagesgespräch.«
»Wissen Sie genau, was passiert ist und wieso ich in diesen Kalamitäten stecke?«
Kate schüttelte den Kopf. »Ich hab nur was von einem Dokument gehört, das Sie Flynn ausgehändigt hätten, aber mir sind keine Einzelheiten bekannt.«
»Sind Sie mit der Insufort-Klage vertraut?«
»Nur ein bisschen. Ich hab Briggs wissen lassen, dass ich daran nicht mitarbeiten will.«
»Und warum?«
Kates toughes Gebaren brach für Sekunden auf. »Das Kind meiner Schwester ist mit Fehlbildungen zur Welt gekommen. Es war die Hölle für sie und ihren Mann, die Kleine aufzuziehen.«
Kate nahm einen Schluck Kaffee. Als sie aufsah, hatte sie sich wieder gefasst.
»Haben Sie was dagegen, wenn ich Ihnen ein bisschen Hintergrundinformationen zu dem Fall gebe?«, fragte Daniel. »Nur zu!«
»Insulin ist ein Eiweißhormon, das die Bauchspeicheldrüse produziert und das dem Körper hilft, Zucker in Glucose umzuwandeln. Während der Schwangerschaft wird die Wirksamkeit des Insulins beim Glucosestoffwechsel herabgesetzt, wodurch Schwangere Diabetes entwickeln können. Insulinresistenz während der Schwangerschaft muss behandelt werden, da hohe Blutzuckerwerte für den Fötus toxisch sind und zu Missbildungen führen können. Geller Pharmaceuticals hat gegen das Problem der Insulinresistenz in der Schwangerschaft die Substanz Thalglitazon entwickelt, die den Handelsnamen Insufort trägt. Insufort hebt die Insulinresistenz auf und verhindert Diabetes und seine Komplikationen.«
»Aber es gibt Probleme, nicht? Fehlbildungen?«, sagte Kate. »Und besteht nicht auch eine Verbindung zu dem Thalidominschock in den späten Fünfzigern?«
»Ja und nein. Ein Boulevardblatt hat Insufort als Nachfolger von Thalidomid bezeichnet, und da gibt es tatsächlich eine Verbindung. Ein Wirkstoff namens Troglitazon half schwangeren Frauen dabei, das Problem der Insulinresistenz zu lösen, aber er hat möglicherweise auch zu Leberversagen geführt. Gellers Wissenschaftler haben Glitazon mit dem Thalido-Ring des Thalidomids verbunden und ein unbedenkliches Produkt geschaffen, das gegen Schwangerschaftsdiabetes hilft.«
»Wieso bringen dann Frauen, die das Mittel genommen haben, Babys mit Fehlbildungen zur Welt?«
»Vermutlich ist es der Wunsch, eine logische Erklärung für etwas zu finden, das Zufall ist.«
Kate sah ihn abschätzig an.
»Nein, wirklich.« Daniel ließ sich nicht von seinem Argument abbringen. »Viele der Frauen, die behaupten, Insufort habe die Fehlbildungen ihres Kindes verursacht, haben das Medikament wahrscheinlich nicht vorschriftsmäßig eingenommen. Vielleicht haben sie es nur ab und an oder zumindest nicht regelmäßig genommen oder überhaupt nur ein paarmal, und ihr Blutzucker ist in gefährlichem Maße angestiegen.«
»Wir geben also den Opfern die Schuld.«
»Hören Sie, Kate, die meisten Frauen bringen gesunde Babys zur Welt, aber einige bekommen Kinder, die Probleme haben.
Manchmal wissen wir, warum. Einige krampflösende Mittel verursachen Wolfsrachen. Babys älterer Mütter haben ein höheres Risiko, Infektionskrankheiten der Mutter können ebenfalls zu Komplikationen führen. Und dann gibt es noch den Alkohol-, Tabak- und Drogenkonsum. Aber bei den meisten Fehlbildungen bleibt die Ursache ein medizinisches Rätsel. Das Fatale ist, dass man in Amerika glaubt, es gebe für jedes Problem eine Erklärung.« Daniel lehnte sich vor und sah Kate an. »Wir können nicht akzeptieren, dass schlimme Dinge passieren. Du kriegst Krebs, also sind die Überlandleitungen schuld daran, du überfährst jemanden, also muss es an deinem Auto liegen. Schon mal von den Bendictin-Fällen gehört?«
Kate schüttelte den Kopf.
»Morgendliche Übelkeit ist für viele Schwangere ein Problem. Bei den meisten ist es nur unangenehm, aber es kann auch tödlich sein. Sie wissen, wer Charlotte Bronte ist?«
»Die Autorin von Jane Eyre.«
Daniel nickte. Sie ist an Hyperemesis gravidarum, morgendlicher Übelkeit, gestorben. 1956 hat die Lebens- und Arzneimittelbehörde Bendictin zugelassen, ein vom Pharmahersteller Merrill entwickeltes Therapeutikum für schwere Fälle von morgendlicher Übelkeit. 1979 meldete der National Enquirer, Bendictin sei für Tausende Fälle von Fehlbildungen bei Neugeborenen verantwortlich. »Die sicherste Methode, um festzustellen, ob zwischen einem Medikament und einem Problem ein Kausalzusammenhang besteht, ist eine epidemiologische Untersuchung. Wenn eine Kontrollgruppe, die den Wirkstoff nicht eingenommen hat, genauso viele oder mehr Probleme aufweist wie die Gruppe, die damit behandelt wird, kann man den Schluss ziehen, dass es aller Wahrscheinlichkeit nach keinen Zusammenhang zwischen dem Arzneimittel und dem Problem gibt. Alle epidemiologischen Untersuchungen zu Bendictin führten zu dem Ergebnis, dass es zwischen den beiden Gruppen keinen statistischen Unterschied in der Häufigkeit von Missbildungen gab - was aber einige Anwälte durchaus nicht daran hindern konnte, Frauen zu einer Klage gegen Merrill zu raten. Die Anwälte der Kläger müssen Anhaltspunkte für einen Kausalzusammenhang zwischen dem Medikament und den Behinderungen gehabt haben. Sie zogen Experten zu Rate, die sich nicht genierten, die Ergebnisse von Versuchsreihen zu manipulieren oder entsprechende Studien ohne angemessene Kontrollen oder gar mit falsch angegebenen Dosen durchzuführen. Die Kläger verloren fast jeden Prozess, da sie nicht nachweisen konnten, dass Bendictin für irgendwelche Fehlbildungen verantwortlich war. Merrill Pharmaceuticals kostete die Verteidigung jedoch in all diesen Verfahren hundert Millionen Dollar. Am Ende wurde wegen der fortgesetzten negativen Schlagzeilen das vollkommen unbedenkliche Produkt vom Markt genommen, und andere Pharmahersteller hatten Angst, ein Arzneimittel zu entwickeln, das Schwangeren gegen morgendliche Übelkeit half. 1990 berichtete das Journal of the American Medical Association, dass sich die Zahl der Frauen, die wegen schwerer Übelkeit und häufigen Erbrechens während der Schwangerschaft ins Krankenhaus eingewiesen wurden, seit Bendictin vom Markt verschwunden war, verdoppelt habe. Wer hatte also am Ende darunter zu leiden? Nur die Unschuldigen.«
»Haben alle Insufort-Studien die Unbedenklichkeit des Medikaments belegt?«, fragte Kate.
»Alle außer einer«, erwiderte Daniel zögernd.
Kate legte den Kopf schief und beobachtete Daniel scharf, während sie schwieg und darauf wartete, dass er seine Ausführungen fortsetzte.
»Ich bin in Schwierigkeiten, weil ich bei der Durchsicht von einem Teil der Dokumente, die Geller an Aaron Flynn übergeben hat, einen Brief von Dr. Kaidanov übersehen habe. In dem Brief geht es um eine Versuchsreihe an Primaten mit Insufort.«
»Und?«
Der Anblick von Patrick Cummings blitzte Daniel durch den Kopf.
»Die Studie zeigte ein hohes Aufkommen von Fehlbildungen bei Rhesusaffen, denen das Mittel während der Trächtigkeit verabreicht worden war«, antwortete er ruhig. »Hat Geller Pharmaceuticals euch vor der Zeugenvernehmung etwas von der Studie gesagt?«
»Nein. Gellers leitender medizinischer Sachverständiger schwört, dass er noch nie davon gehört habe.«
»Verstehe.« Kate klang skeptisch.
»Der Kaidanov-Brief ergibt keinen Sinn, Kate. Der Prozentsatz an Missbildungen war sehr hoch, über vierzig Prozent. Das steht in so krassem Gegensatz zu sämtlichen anderen Untersuchungen, dass da irgendwas faul sein muss.«
»Vielleicht ist an Gellers anderen Studien etwas faul.«
»Nein, ich habe in keiner anderen Studie irgendeine Verbindung zwischen Insufort und Fehlbildungen entdecken können.«
»Vielleicht haben Sie keine entdecken können, weil Geller sie vertuscht. Erinnern Sie sich an die Asbestskandale? Die Asbestindustrie hat damals Studien unterschlagen, die erhöhte Krebsraten bei Tieren auswiesen. Erst im Zuge eines Gerichtsverfahrens kam ans Licht, dass ihnen das Problem bereits seit Jahrzehnten bekannt war. Die Bleifarbenindustrie rechtfertigte ihre Produkte noch, als Bleivergiftungen zu den häufigsten Gesundheitsschäden bei Kindern unter sechs Jahren gehörten und obwohl die Gefahren von Bleivergiftung bereits seit 1897 wissenschaftlich dokumentiert waren. Von der Tabakindustrie ganz zu schweigen.«
»Verdammt, Kate, auf wessen Seite stehen Sie? Geller ist unser Klient.«
»Unser Klient ist in der Pharmaindustrie, um Kohle zu machen, und es würde mich nicht wundern, wenn Geller die Kaidanov-Studie vertuscht hätte, falls deren Ergebnisse so niederschmetternd sind, wie Sie sagen. Glauben Sie wirklich, Geller bringt Insufort auf den Markt, um Frauen zu helfen? Firmen, in deren Chefetagen Männer sitzen, stellen eine Menge fehlerhafte Produkte her, die Frauen einnehmen. Neben Thalidomid hat es DES gegeben, das synthetische Östrogen, das Fehlgeburten verhindern sollte und Vaginalkrebs verursachte -und nicht zu vergessen, das Dalkon-Diaphragma.«
»Die Klägeranwälte nutzen diese Sympathie für Frauen aus, um den Herstellern mit leichtfertig angestrengten Gerichtsverfahren das Geld aus der Tasche zu ziehen und für ihre Kanzleien Millionen zu scheffeln«, antwortete Daniel ärgerlich. »Ihre Klienten sind ihnen völlig egal, und es interessiert sie herzlich wenig, ob sie einen echten Grund zur Klage haben. Die Anwälte im Bendictin-Fall setzten darauf, dass die Geschworenen vom Anblick der Fehlbildungen schockiert genug sind, um zu vergessen, dass der ursächliche Zusammenhang mit dem Arzneimittel nicht erwiesen ist. Die Fälle um die Brustimplantate bedienten sich des Mitgefühls gegenüber Frauen, obwohl bis heute nicht nachgewiesen ist, dass es einen Zusammenhang zwischen dem Silikongel und Erkrankungen des Bindegewebes gibt.«
Kate schien sauer zu sein. »Ich habe eine gute Freundin, die keine Kinder kriegen kann, weil sie das Dalkon-Diaphragma benutzt hat. Ich habe an ihrem Verfahren mitgearbeitet, und ich hab eine Menge darüber gelernt, wie Unternehmen in Amerika funktionieren. Bis die Öffentlichkeit merkt, es könne sich um ein bedenkliches Produkt handeln, hat der Konzern schon so viel Geld damit verdient, dass er es sich leisten kann, die Opfer zu kaufen. Die Tabakindustrie ist so gut bei Kasse, dass sie Vergleiche in mehrfacher Millionenhöhe locker wegstecken kann. »Und urteilen Sie im Übrigen bitte nicht gar so hart über Klägeranwälte! Wenn sie einen Fall gewinnen, können sie Millionen verdienen, aber sie kriegen keinen Cent, wenn sie ihn verlieren.«
»Halten Sie Aaron Flynn für einen Menschenfreund?«, fragte Daniel, obwohl er nicht voll hinter seinen Worten stand. Noch während er sie aussprach, erinnerte er sich daran, wie Aaron Flynn Patrick Cummings das Haar gestreichelt hatte.
»Wer sonst macht sich für die Armen stark?«, fragte Kate. »Reed, Briggs ganz bestimmt nicht. Wenn nicht Anwälte wie Flynn einen Fall auf Erfolgsbasis übernehmen würden, könnten es sich nur die Reichen leisten, vor Gericht zu gehen. Und diese Anwälte setzen ihr eigenes Geld aufs Spiel, indem sie Kosten tragen, die sie nicht wieder hereinholen, wenn sie verlieren. Ein guter, anständiger Anwalt kann alles verlieren, wenn er nicht gewinnt. Der Anwalt, der meine Freundin vertrat, als sie unfruchtbar wurde, hat den Fall übernommen, um die Firma zu zwingen, ein gefährliches Produkt vom Markt zu nehmen. Ihm war Jill nicht gleich-gültig. Falls Insufort Kinder entstellt, muss man Geller zwingen, es zurückzuziehen, indem man das Problem beim Namen nennt, und das kann man am besten vor Gericht.« Daniel atmete die Luft aus, die er lange angehalten hatte. »Sie haben Recht. Tut mir Leid. Ich habe nur einfach Angst, meinen Job zu verlieren, weil ich diesen verdammten Brief übersehen habe. Und ich bin sicher, dass mit der Kaidanov-Studie etwas nicht stimmt. Es ergibt einfach keinen Sinn, dass er mit Insufort zu diesen Ergebnissen kommt. Deshalb habe ich versucht, ihn zu finden. Wissen Sie, dass er seit einer ganzen Weile nicht mehr zur Arbeit gekommen ist?«
Kate nickte.
»Als ich zu Kaidanov fuhr, hatte ich nicht vor reinzugehen, aber ich sah, jemand hatte das Haus durchsucht, und ich dachte, er könne vielleicht verletzt sein oder Schlimmeres. Und ich habe etwas gefunden, das uns möglicherweise weiterhilft.«
Daniel zog die in sein Taschentuch gewickelte Festplatte heraus und legte sie auf den Tisch. Kate starrte sie ungläubig an.
»Falls die Studie existiert und Kaidanov seine Ergebnisse aufgezeichnet hat, sind sie vielleicht hier drauf.« Kate lachte. »Sie haben Kaidanovs Festplatte gestohlen?«
»Ich hab sie nicht gestohlen. Ich hab versucht, Geller zu schützen. Waren Sie nicht aus demselben Grund da - um Gellers Eigentum zu schützen?«
Kate zögerte, und Daniel erinnerte sich an etwas, das er einmal über sie gehört hatte.
»Warten Sie, waren Sie nicht die Ermittlerin, die in diesem Fall von widerrechtlicher Kündigung die Festplatte geknackt hat, als wir E-Mails wiederherstellen mussten, die ein Mitarbeiter gelöscht hatte?«
Ein zartes Lächeln huschte über Kates Gesicht.
»Könnten Sie sich das hier mal ansehen? Ich hab es in Kaidanovs Haus probiert, aber man braucht ein Passwort, um sich einzuloggen.«
»Wieso sollte ich?«
»Ich hab Ihnen schon mal gesagt, dass ich nicht wie Joe Molinari mit einem Silberlöffel im Mund zur Welt gekommen bin. Genauer gesagt, bin ich mit keinerlei Löffel geboren. Dieser Job ist alles, was ich habe. Briggs wird einen Prügelknaben brauchen, falls Kaidanovs Brief den Insufort-Fall zum Scheitern bringt, und der bin ich. Ich weiß einfach, dass an Kaidanovs Studie was faul ist. Wenn ich das beweisen kann, dann kann ich den Fall retten und damit vielleicht auch meinen Job.«
»Und wenn die Studie nun echt ist?«
Daniel seufzte und schüttelte den Kopf. »Dann bin ich geliefert.«
Kate traf eine Entscheidung. Sie streckte die Hand aus. »Geben Sie mir das Ding!«, sagte sie und schnippte mit den Fingern nach der Festplatte. »Das nehmen wir mit zu mir. Wollen doch mal sehen, was wir finden.“
NEUN
Daniel folgte Kate Ross auf kurvenreichen Straßen in die West Hills. Anfänglich fuhren sie an Häuserzeilen vorbei, dann überwog allmählich der Wald, und die Häuser standen immer weiter auseinander. Kate wohnte am Ende einer Sackgasse, von ihren Nachbarn auf beiden Seiten durch tausend Quadratmeter Wald getrennt. Ihr modernes Landhaus aus Glas und Stahl stand auf einer Anhöhe mit Blick auf das Stadtzentrum von Portland.
Daniel folgte Kate über einen Plattenweg durch einen kleinen Blumengarten zur Haustür. Eine Treppe neben dem Eingang führte in Kates Schlafzimmer hinauf. Sie ging an ihr vorbei durch ein Wohn- und Esszimmer. Die Außenwand bestand ganz aus Glas. Daniel warf einen kurzen Blick auf die augenscheinlich teure Einrichtung. Das abstrakte Bild an der Wohnzimmerwand schien ein echtes Ölgemälde zu sein, und dasselbe galt für eine kleinere französische Landschaftsdarstellung. Die Stühle und das Sofa waren lederbezogen, und der Esstisch war aus gewachster Eiche und sah antik aus.
Kate stieg gegenüber der Küche eine Treppe hinunter, die zu einem Arbeitsraum mit Neonlicht führte. Über den ganzen Kellerraum verteilt waren mehrere Werkbänke, auf denen Monitore, Kabel, Festplatten und andere Computerinnereien standen und lagen. Entlang einer Wand war über die volle Länge eine Schreibtischplatte eingelassen. Darüber befand sich ein Bücherregal mit Computerhandbüchern und Fachliteratur sowie naturwissenschaftlichen Lehrbüchern.
»Betreiben Sie in Ihrer Freizeit einen Computerreparatur- dienst?«, scherzte Daniel.
»So was in der Richtung«, antwortete Kate, während sie Kaidanovs Festplatte aus der Jackentasche zog. Sie warf die Jacke über einen Stuhl, strich sich das Haar zurück und setzte sich an den langen Tisch. Sie hatte einen Wechselrahmen, in den sie Kaidanovs Festplatte steckte, bevor sie den ganzen Rahmen in einen ihrer Computer einrasten ließ.
»Wie wollen Sie das Passwort umgehen?«, fragte Daniel nervös.
»Kein Problem. Ich hab eine Software geschrieben, die bisher noch jedes Passwort geknackt hat.«
»Wo haben Sie das gelernt?«
»Am Cal Tech.«
Kate sah, dass Daniel große Augen machte, und sie musste lachen.
»Das Dezernat für Computerkriminalität der Polizeibehörde von Portland hat mich vom College weg engagiert. Es schien ungleich interessanter, als in irgend so einer Hightechfirma rumzuhocken. Jetzt mach ich so was selbstständig nebenher. Wird gut bezahlt.«
Kate drehte sich wieder zum Monitor um und fing an, auf ihrer Tastatur Befehle einzugeben. Schon nach einer Minute lächelte sie und schüttelte den Kopf.
»Es ist erstaunlich. Immer dasselbe. Von einem Wissenschaftler hätte ich mehr erwartet. Sein Passwort besteht aus sechs Zahlen - vermutlich sein Geburtsdatum.«
»Sind Sie drin?«
Sie nickte. »Als Erstes werde ich eine Kopie von diesem Schätzchen machen, nur für den Fall, dass etwas schiefgeht.«
Kates Finger rasten über die Tastatur, und auf dem Bildschirm erschienen die ersten Zeilen Text.
»Das haben wir gleich.«
»Wieso haben Sie bei der Polizei aufgehört und bei Reed, Briggs angeheuert?«, fragte Daniel, um ein bisschen Konversation zu treiben.
»Das geht Sie nichts an, Arnes«, schnauzte Kate ihn an und drehte ihren Stuhl so herum, dass ihm die Rückenlehne zugewandt war. Von ihrem Ausbruch überrascht, verschlug es Daniel die Sprache.
»Die Kopie ist fertig«, sagte sie nach kaum einer Minute, jetzt ganz und gar geschäftsmäßig. »Holen wir uns Kaidanovs Dateien!«
Kate tippte ein paar Befehle ein. »Was hier noch drauf ist, hat nichts mit Insufort zu tun. Falls Kaidanov tatsächlich Dateien über seine Affen hier drauf hatte, dann sind sie vermutlich gelöscht worden.«
»Schiet.«
»Keine Angst! Falls er nicht eine spezielle Software benutzt hat, sind die Dateien nicht wirklich gelöscht. Sie sind immer noch auf der Festplatte. Es trifft sich gut, dass ich ein Voodooprogramm geschrieben habe, das die Toten wieder auferweckt«, sagte Kate und hämmerte auf die Tasten. Weiterer Text erschien auf dem Monitor. Sie stand auf und winkte Daniel heran, damit er sich die Sache genauer ansehen konnte.
»Da scheint es einen großen Dateiblock zu geben, der am vierten März gelöscht wurde. Setzen Sie sich an die Tastatur und drücken Sie Nächste Seite, bis Sie finden, was Sie brauchen, und wir drucken es aus.«
Daniel nahm Kates Stuhl und sah sich an, was auf dem Monitor zum Vorschein kam.
»Eine Menge Zeug drauf.«
»Geben Sie mir ein paar Stichworte. Ich hab ein Suchprogramm.«
Daniel dachte einen Augenblick nach. »Probieren Sie es mit Insufort, Rhesusaffen, Primaten.«
Kate lehnte über seine Schulter und tippte ein paar Befehle ein. Ihr Haar strich gegen seine Wange. Sie roch gut.
Plötzlich erschien der Brief von Kaidanov an George Fournet auf dem Bildschirm.
»Das ist es«, sagte Daniel hoffnungsvoll, doch seine freudige Erregung schwand mit jedem Dokument, das dem Brief folgte. Als er die Lektüre beendet hatte, blickte er mit düsterer Miene auf.
»Was ist?«, fragte Kate.
»Sie wissen, dass ich nicht geglaubt habe, was in Kaidanovs Brief stand?«
Kate nickte.
»Nun, die gelöschten Dateien enthalten die Studien, die Kaidanovs Forschungsergebnisse belegen. Ich hab sie nur überflogen, aber wie es aussieht, erhärten sie seine Schlussfolgerungen über die Häufigkeit von Fehlbildungen bei Affen, die Insufort bekommen haben.«
»Dann treffen die Versuchsergebnisse wirklich zu?«
Daniel nickte. »Und damit habe ich mich noch tiefer reingeritten.«
»Aber Sie haben vielleicht dabei geholfen, Insufort vom Markt zu holen.«
»Auf Kosten meines Jobs.«
»Möchten Sie wirklich Geller helfen, wenn die ein Produkt verkaufen, das Kindern das Leben kaputtmacht?“
Daniel antwortete nicht.
»Über noch was sollten wir uns Gedanken machen«, sagte Kate. »Wer hat Kaidanovs Dateien gelöscht und sein Haus verwüstet? Wem ist daran gelegen, dass Kaidanovs Forschungsergebnisse nicht veröffentlicht werden?«
Daniel antwortete noch immer nicht.
»Da kommt eigentlich nur Geller Pharmaceuticals infrage.«
»Ich weiß nicht.«
»Fällt Ihnen sonst irgendjemand ein, der ein Motiv haben könnte, Dan?«
»Nein, Sie haben Recht. Es muss jemand von Geller sein.« Wieder sah er Patrick Cummings vor sich.
»Das ist schlimm.«
»Und es kommt vielleicht noch schlimmer. Was glauben Sie, wo Kaidanov ist?«
»Jetzt gehen Sie zu weit, Kate. Geller wird von Geschäftsleuten geführt, nicht von Killern.« Daniels Protest blieb ohne rechte Überzeugungskraft.
»Wachen Sie auf! Hier geht es um Milliardenverluste, wenn Geller Insufort vom Markt nehmen muss, mal ganz abgesehen von den Gerichtskosten. Was glauben Sie, wie viel Schadensersatz die Kläger herausholen werden, falls Aaron Flynn beweisen kann, dass Geller bewusst ein bedenkliches Produkt verkauft hat? Nach dem ersten erfolgreichen Prozess wird jede Frau, die mal ein Problem mit Insufort gehabt hat, bei Flynn auf der Matte stehen, und über Geller bricht eine Prozessflut herein.«
Kate wandte sich wieder ihrem Computer zu und setzte erneut das Suchprogramm in Gang, während Daniel darüber nachdachte, was er als Nächstes tun sollte.
»Ja!«, rief Kate im nächsten Moment und wies mit dem Finger auf den Bildschirm.
»Affen müssen fressen. Das ist eine Bestellung über eine Kiste Affenfutter, und da steht eine Adresse. Da muss das Labor sein.«
Kate ging zu einem anderen Computer. »Ich kann die Wegbeschreibung und eine Karte aus dem Internet holen.« Während sie damit beschäftigt war, warf Daniel einen genaueren Blick auf Kaidanovs Studie. Je genauer er hinsah, desto deprimierter fühlte er sich. Fünf Minuten später zeigte Kate ihm eine Karte mit einer Wegbeschreibung zum Labor von ihrer Stadtwohnung aus.
»Ich hab noch was anderes ausgegraben«, sagte Kate. »Nachdem ich die Karte hatte, fand ich den Grundbucheintrag und die Steuerveranlagung für das Laborgrundstück. Es gehört Geller Pharmaceuticals.“
ZEHN
Zwanzig Minuten später fuhr Daniel mit Kate an seiner Seite auf einer schmalen Landstraße. Die Sonne ging gerade unter, und sie hatten geschwiegen, seit sie den Highway verlassen hatten. Kate starrte geradeaus, und Daniel warf gelegentlich einen Blick auf die Detektivin. Daniel hatte Kate bei der Arbeit ein paarmal um Rat gefragt, und sie hatte ihn mit ihrer Intelligenz beeindruckt, doch er hatte sich nicht von ihr angezogen gefühlt. Jetzt stellte er fest, dass sie auf eine markante Art gut aussah. Nicht wie Susan Webster, aber interessant. Und sie war zweifellos faszinierend. Er kannte keine andere Frau, die Voodoosoftware schrieb und einmal bei der Polizei gewesen war.
»Da ist es«, sagte Kate.
Daniel ignorierte ein Schild mit der Aufschrift Zutritt verboten und bog in einen Waldweg ein. Die Stoßdämpfer seines Gebrauchtwagens waren nicht im besten Zustand, und Kate fluchte reichlich, sobald sie die geteerte Straße verlassen hatten. Sie wollte gerade zu einem erneuten Protest ansetzen, als der Weg eine Biegung machte und ein ebenerdiges Gebäude vor ihnen auftauchte. Als sie ausstiegen, drehte gerade der Wind, und ein seltsamer Geruch stieg Kate in die Nase.
»Wonach riecht das?«, fragte Daniel.
»Ein bisschen wie Barbecue«, antwortete Kate.
Unter einem zersprungenen Fenster lagen Glasscherben, und die Haustür war verkohlt und verformt. Daniel spähte vorsichtig durchs Fenster, und im selben Moment fuhr sein Kopf zurück.
Sein Gesicht war aschfahl.
»Was ist?«, fragte Kate.
»Da liegt eine Leiche auf dem Boden. Die Haut fehlt. Eher ein Skelett.«
Kate streckte eine Hand nach der Tür aus, zögerte aber, da sie fürchtete, sie könnte noch heiß sein. Sie berührte das Metall mit einem Finger. Es war kalt. Sie drückte die Klinke herunter, und die Tür ging mit einem Ruck auf. Sie sah sich nach einem Lichtschalter um, fand auch einen, der aber nicht funktionierte.
»Haben Sie eine Taschenlampe?«, fragte Kate. Daniel holte eine aus dem Auto, und Kate ging hinein. Er versuchte, ihr zu folgen, aber sie wies ihn zurück.
»Das ist ein Tatort. Bleiben Sie einfach hier stehen und halten Sie die Tür auf, damit ich ein bisschen mehr Licht bekomme!«
Daniel drückte die Tür weiter auf und blieb stehen. Er war ihr insgeheim dankbar, dass ihm der nähere Anblick der Leiche erspart blieb.
Kate ging langsam zu dem Raum, den sie durch das Fenster gesehen hatte, und blieb in der Tür stehen. Ein Teil des Dachs war heruntergekommen, und im letzten Sonnen-licht war ein Teil eines Büros zu erkennen. Verkohlte Holzbalken hatten einen Tisch zerschmettert sowie etwas, das einmal ein Überwachungsmonitor gewesen sein musste. Neben dem Monitor war ein Plastikständer mit Reagenz-gläsern in der großen Hitze geschmolzen.
Kate ging um einen angesengten Schreibtisch herum, der auf der Seite lag. Auf zwei Aktenhängeschränken, deren sämtliche Fächer herausgezogen waren, lag ein zweiter Dachbalken. Die Farbe an den Schränken war abgesprungen. Das Metall hatte Ruß- und Brandspuren, war aber noch intakt. Eine Brise wehte durch das zerbrochene Fenster und blies durch die Lücken im Dach. Sie wirbelte schwarze Papier Schnitzel durch den Raum. Das Papier kam von einem Haufen Asche in der Mitte des Zimmers, der, wie Kate vermutete, einmal der Inhalt der Aktenschränke gewesen war.
In diesem Moment wurde Kates Blick fast gegen ihren Willen von zwei Leichen angezogen, die gekrümmt ein Stück weiter weg am Boden lagen. Die eine war die eines Menschen mit verkohltem Schädel und zu Asche verbrannten Kleidern. Kates Magen rebellierte, doch sie schloss für einen Moment die Augen und riss sich zusammen. Als sie wieder hinsehen konnte, musterte sie die zweite Leiche. Für Sekunden war sie perplex. Selbst für ein Kind war der Körper zu klein. Kate biss die Zähne zusammen und trat näher heran. Und sie sah den Schwanz. Sie lief hinaus.
»Was haben Sie gefunden?«, fragte Daniel.
»Eine menschliche Leiche und einen toten Affen. Ich werd mal den Flur runtergehen.«
»Wir sollten schleunigst hier verschwinden«, sagte Daniel nervös.
»Gleich.«
»Hier ist niemand mehr, jedenfalls nicht am Leben. Sonst hätten wir etwas gehört.«
»Nur eine Sekunde.«
Das Licht vom Eingang reichte kaum bis ans Ende des Flurs, und so musste Kate die Taschenlampe anschalten.
Sie entdeckte zwei offene Türen, hatte jedoch keine Ahnung, was sich dahinter befand. Je näher sie den Räumen kam, desto stärker wurde der Geruch nach verbranntem Fleisch. Kate hielt die Luft an und leuchtete in die Räume. Der erste war voller Käfige, und in jedem befand sich ein toter Affe, der gegen das Gitter gedrückt dalag, als ob er versucht hätte, durch die Drahtmaschen zu kommen, bevor er starb.
ELF
Ein Polizist in Uniform nahm gerade Kates und Daniels Aussagen zu Protokoll, als ein Zivilfahrzeug hinter dem Van der Gerichtsmedizin hielt. Inspektor Billie Brewster vom Morddezernat, eine schlanke Afroamerikanerin in marineblauem Anorak und Jeans, stieg aus. Ihr Kollege Zeke Forbus, ein wuchtiger Weißer mit schütterem braunem Haar, erkannte Kate im selben Moment wie sie ihn.
»Was hat Annie Oakley hier zu suchen?«, fragte er Brewster.
»Halt dein blödes Maul«, fuhr die Frau ihren Kollegen an. Dann ging sie zu Kate und umarmte sie.
»Wie gehts, Kate?«, fragte sie teilnahmsvoll.
»Mir gehts gut, Billie«, erwiderte Kate wenig überzeugend. »Und dir?«
Die Inspektorin zeigte mit dem Daumen über die Schulter zu ihrem Kollegen.
»Mir gings großartig, bis sie mir dieses schwammige Weißbrot als Partner zugeteilt haben.«
»Zeke«, sagte Kate und nickte.
»Lange her, Kate«, antwortete Forbus unterkühlt. Dann drehte er ihr den Rücken zu und wandte sich an den Beamten in Uniform.
»Na, was haben wir denn hier, Ron?«
»Schmorbraten«, entgegnete der Beamte mit einem Grinsen. »Falls du noch nicht gegessen hast, hol ich dir einen Eimer voll BÄ.«
»BÄ?“
»Bratäffchen«, antwortete der Polizist und kicherte über seinen eigenen Witz. »Da drinnen haben wir eine Unmenge davon.«
»Wieso soll ich einen Mord an Affen aufklären?«, fragte Forbus. »Ist dafür nicht das Veterinäramt zuständig?«
»Einer der knusprigen Braten ist kein Affe, darum«, entgegnete der Uniformierte.
»Soviel ich weiß, hast du das hier gemeldet«, sagte Billie zu Kate. »Was hast du mitten in der Nacht hier draußen zu suchen?«
»Das ist Daniel Arnes, ein Anwalt bei Reed, Briggs, der Firma, für die ich arbeite. Einer unserer Klienten, Geller Pharmaceuticals, befindet sich wegen eines seiner Produkte mitten in einem Verfahren. Bis letzte Woche waren alle Versuchsreihen zu Gunsten von Geller ausgefallen, aber ein Wissenschaftler namens Sergey Kaidanov legte als Einziger negative Ergebnisse zu einer Versuchsreihe an Rhesusaffen vor.«
»Die Sorte, die wir da drinnen haben?«, fragte Billie mit einem Kopfnicken Richtung Labor.
»Genau. Alle sind hinter Kaidanov her, weil seine Versuche von größter Tragweite für den Prozess sein könnten, doch er ist vor einer Woche verschwunden.«
»Hat schon jemand rausgefunden, wann der Brand war?«, fragte Billie den Uniformierten.
»Noch nicht, aber er muss schon ein Weilchen her sein.«
»Erzähl weiter!«, forderte Billie Kate auf.
»Dan und ich sind zu Kaidanovs Haus gefahren, um mit ihm zu reden. Er war nicht da, aber jemand hatte seine Wohnung auseinander genommen.«
»Was genau heißt das?«, fragte Forbes.
»Jemand hat sie durchsucht und ein Chaos hinterlassen. Wir haben ein paar Nachforschungen betrieben und die Adresse des Labors gefunden. Wir sind rausgefahren, weil wir hofften, Kaidanov zu finden. Wie es aussieht, hatten wir Erfolg.«
»Du glaubst, der Tote da drinnen ist euer Wissenschaftler?«
»Wäre zumindest nahe liegend.«
»Sehen wir uns mal um!«, sagte Billie, die Klinke in der Hand, zu Forbes.
Kate machte einen Schritt Richtung Tür, doch Forbes streckte einen Arm aus und verstellte ihr den Weg. »Für Zivilisten ist der Zutritt zum Tatort verboten.«
»Herrgott noch mal!«, entfuhr es Billie, während sie ihren Kollegen wütend ansah.
»Ist schon in Ordnung, er hat ja Recht. Ich bin nicht mehr bei der Polizei«, sagte Kate sichtlich bemüht, unbeteiligt zu wirken. Doch Daniel sah, wie ihre Schultern einsackten. »Was sollte das alles?«, fragte Daniel, sobald die beiden außer Hörweite waren.
»Ach, alte Geschichten.«
»Danke, dass Sie mich gedeckt haben.«
Kate sah ihn verständnislos an.
»Sie wissen schon, meinen Einbruch in Kaidanovs Haus.« Kate zuckte die Achseln. »Haben Sie geglaubt, ich würde Sie ans Messer liefern?«
Ein Beamter von der Gerichtsmedizin nahm das Büro mit einer Videokamera auf, während ein Spezialist vom Kriminallabor 35-mm-Fotos und anschließend Bilder mit einer Digitalkamera machte, die gegebenenfalls in den Computer eingegeben oder per E-Mail verschickt werden konnten. Billie betrachtete den Raum von der Tür aus. Ein paar Meter vor ihr lag eine Leiche auf dem Bauch. An der Seite und am Rücken war alles Fleisch vollständig verbrannt, und die Knochen waren von der Hitze des Feuers graublau verfärbt.
»Irgendwas zu erkennen?«, fragte Billie den Gerichtsmediziner.
»Kann nicht mal das Geschlecht bestimmen«, erwiderte er. »Ist es Mord?«
»Höchstwahrscheinlich ja. Deutsch sagt, es war mit Sicherheit Brandstiftung.« Der Gerichtsmediziner zeigte auf den Brandexperten. »Und sehen Sie sich mal den Schädel an!«
Die Inspektorin machte ein paar Schritte in den Raum, um die Leiche genauer zu betrachten. Der hintere Teil des Schädels war zertrümmert. Die Verletzung konnte vom Austritt eines Geschosses oder von einem stumpfen Gegenstand herrühren. Es war Aufgabe des Gerichtsmediziners, das zu entscheiden.
Billie ging neben der Leiche in die Hocke. Der Boden war aus Beton, dann hatten sie vielleicht Glück. Von früheren Mordfällen in Verbindung mit Brandstiftung wusste sie, dass an der dem Feuer abgewandten Seite der Leiche zuweilen Stoff-und Fleischpartien der sengenden Hitze entgingen. Wo der Körper fest auf dem Boden ruhte, bekam das Feuer weniger Sauerstoff, sodass an diesen Stellen Fleisch und Kleidung etwas geschützter waren.
Billie richtete ihr Augenmerk auf den kleinen Kadaver nicht weit von der menschlichen Leiche. Sein Fell und Fleisch waren vollständig verbrannt. Auch das Tier hatte einen zertrümmerten Schädel. Ein paar Minuten lang betrachtete sie nüchtern den Affen, bevor sie aufstand. »Falls Sie noch mehr Affen sehen wollen, weiter hinten sind noch zwei Räume voll von ihnen«, sagte der Gerichtsmediziner.
»Kein Bedarf«, sagte Forbus und unterdrückte ein Gähnen. Es überraschte Billie nicht, dass der bizarre Tatort ihren Partner langweilte. Das Einzige, was den alten Knaben interessierte, war, bei dem Laden noch mitzumachen, bis er seine Pension einstreichen und an dreihundertfünfundsechzig Tagen im Jahr angeln gehen konnte. Eine Ausnahme, bei der sie ein gewisses Engagement seinerseits ausmachen konnte, war vor kurzem der Mord in einem Striplokal gewesen. Billie dagegen faszinierte alles, was aus dem Rahmen fiel, und dieser Fall hier war das Ungewöhnlichste, das sie seit langem gesehen hatte.
Sie ging den Flur entlang. Vor den Affenräumen blieb sie schweigend stehen und verschaffte sich einen Überblick. Die Tiere hatten einen qualvollen Tod erlitten, und sie empfand Mitleid mit den armen Kreaturen. Zu verbrennen war die schlimmste Todesart, die sie sich vorstellen konnte. Sie erschauderte und wandte sich ab.
ZWÖLF
Die Büroräume des Gerichtsmediziners befanden sich in der Knott Street in einem zweigeschossigen roten Backsteinbau, der einmal ein skandinavisches Bestattungsunternehmen beherbergt hatte. Schlitzahorn und eine Reihe Büsche rahmten den Hauseingang, dessen Vordach auf zwei weißen Säulen ruhte. Kate ließ den Wagen auf dem angrenzenden Parkplatz stehen und ging die Stufen zum Eingang hoch. Billie Brewster wartete am Empfang auf sie.
»Danke, dass ich mitkommen darf«, sagte Kate.
»Du kannst von Glück sagen, dass Zeke noch im Gericht ist. Wenn er hier wäre, hätte ich das auf keinen Fall deichseln können.«
»Nochmals danke.«
Kate folgte Billie zur Rückseite des Gebäudes. Als sie den Autopsieraum betraten, standen Dr. Sally Grace, eine Assistenzärztin von der Gerichtsmedizin, und Dr. Jack Forester, ein forensischer Anthropologe, zu beiden Seiten einer Rollbahre, die zwischen die stählernen Autopsietische entlang den Wänden geschoben worden war. Auf der Bahre lag die Leiche aus dem Primatenlabor. Kurz bevor Billie den Tatort verließ, hatten der stellvertretende Gerichtsmediziner und ein paar Feuerwehrleute den Toten mit Latexhandschuhen mitsamt den wenigen Stofffetzen, die noch unversehrt waren, hochgehoben und in einen Leichensack gesteckt. Im Umkreis des Toten war der Boden nach Schädelfragmenten abgesucht worden, die anschließend zusammen mit der Leiche hierher gebracht worden waren. Der Affenkadaver, der sich im selben Raum befunden hatte, lag zusammen mit den dazugehörigen Schädelfragmenten auf einer zweiten Rollbahre.
»Hi, Billie«, sagte Dr. Grace. »Sie sind ein bisschen spät dran, wir sind fast fertig.«
»Tut mir Leid, ich bin im Gericht aufgehalten worden.«
»Wer ist Ihre Freundin?«, fragte die Assistenzärztin.
Billie stellte vor: »Kate war einmal meine Kollegin und arbeitet jetzt als Detektivin bei der Anwaltskanzlei Reed, Briggs. Der Tote ist möglicherweise ein wichtiger Zeuge in einem Zivilprozess, bei dem ihre Firma den Angeklagten vertritt. Sie ist mir eine große Hilfe.«
»Nun denn, je mehr wir sind, desto lustiger wird es«, sagte Dr. Grace gut gelaunt und wandte sich wieder der Leiche zu.
Forester und Grace trugen blaue wasserundurchlässige Kittel, Masken, Schutzbrillen und schwere, schwarze Gummischürzen. Kate und Billie rüsteten sich genauso aus, bevor sie zu den anderen beiden an die Bahre traten.
»Wir haben ein paar interessante Dinge herausgefunden«, sagte Forester. »Der Affe ist ein Rhesus, wie sie in den meisten Forschungslabors zum Einsatz kommen. Wir haben etwas Blut und Fleisch an seinen Zähnen gefunden, und wir werden die DNA untersuchen, um zu sehen, ob die Probe zu der anderen Leiche passt und von ihr stammt. Das Überraschende ist, wie der Affe zu Tode kam.«
»Nämlich?«
»Durch einen Schuss«, erwiderte Dr. Grace. »Wir haben am Tatort eine 45er Patrone gefunden, und die Schädelrekonstruktion weist eine Austrittsstelle auf.«
»Hat es den da genauso erwischt?«, fragte Billie und wies mit der Hand auf die menschliche Leiche.
»Das dachte ich zuerst. Schien nahe zu liegen, bei dem zertrümmerten Schädel und so«, antwortete Dr. Grace. »Aber bei Mr. X haben wir eine andere Todesursache festgestellt.«
»Dann ist es also ein Mann?«, fragte Kate.
»Das war ziemlich leicht rauszukriegen«, sagte Dr. Grace. »Männerknochen sind schwerer, wegen der größeren Muskelmasse, die an ihnen befestigt ist«, sagte Forester, »und so hatten wir es entweder mit einem Mann von durchschnittlicher bis unterdurchschnittlicher Größe zu tun oder mit einer Frau, die Gewichte gestemmt hat.«
Forester wies auf den Unterleib des Skeletts. In dieser Region war das gesamte Fleisch von den Knochen weggebrannt.
»Das menschliche Becken bietet die verlässlichste Möglichkeit, das Geschlecht eines Skeletts zu bestimmen. Das weibliche Becken ist so geformt, dass es optimalen Platz für den Geburtskanal bietet, und es hat außerdem eine Einkerbung. Das Becken eines Mannes ist gerundet. Das hier ist definitiv das Becken eines Mannes.«
»Und wir haben keine Eierstöcke und keinen Uterus gefunden«, fügte Dr. Grace lächelnd hinzu. »Das war äußerst aufschlussreich.«
Billie lachte. »Wie ist denn nun Mr. X gestorben?«
»Zunächst mal ist festzuhalten, dass er bereits tot war, als er Feuer fing«, sagte die Assistenzärztin. »Es befand sich noch etwas Blut in seinem Herzen. Es war dunkelrot und nicht hellrot oder rosa, woraus ich geschlossen habe, dass kein Kohlenmonoxid vorhanden war. Der entsprechende Test hat meine Annahme bestätigt. Wäre er, als er verbrannte, noch am Leben gewesen, hätten wir Kohlenmonoxid in seinem Blut gefunden.
Außerdem waren seine Atemwege frei von Rußpartikeln, die er eingeatmet hätte, wenn er bei Ausbruch des Feuers nicht schon tot gewesen wäre.«
Dr. Grace beugte sich über die Leiche. »Sehen Sie diese Einkerbungen?«, fragte sie und zeigte auf mehrere Vertiefungen in einer der Rippen. »Die stammen von einem Messer. Die Rippe befindet sich nah am Herzen. Zum Glück lag der Mann auf einem Betonboden, sodass seine Brust ein wenig geschützt war und das Herz erhalten blieb. Es wies Einstichwunden auf, und es befand sich Blut in der linken Brusthöhle sowie im Herzbeutel, was bei einem Einstich zu erwarten war.«
»Was ist mit dem Schädel? Der Affe wurde erschossen. Sieht doch ganz so aus, als hätte man Mr. X das Hirn auf ähnliche Weise weggepustet«, sagte Billie.
»Kommen Sie mit«, sagte Dr. Grace und führte die Gruppe zu einem Tisch vor einer Stahltheke mit einem Spülbecken. Auf einem weißen Leinentuch lagen Bruchstücke des Schädels von Mr. X., die am Tatort eingesammelt worden waren. Man hatte sie mühsam zusammengesetzt.
»Einschüsse verursachen lineare Frakturen, die sich strahlenförmig um die Eintritt- oder die Austrittsstelle bilden.
Wir haben keine linearen Frakturen gefunden, und wie Sie sehen, ergeben die Schädelfragmente zusammen nirgendwo ein Loch. Wäre der Schädel durch ein stumpfes Trauma von einem Stock oder Baseballschläger zertrümmert worden, dann hätten wir Partien gefunden, die von dem Schlag Vertiefungen aufgewiesen hätten.«
»Was ist also die Erklärung?«, fragte Billie.
»Das Gehirn ist stark durchblutet. Als das Feuer das Blut erhitzte, bildete sich Dampf, der Mr. X die Rückseite seines Schädels weggesprengt hat.«
Die Polizistin verzog das Gesicht.
»Wurde er im Labor erstochen?«, fragte Kate.
»Das kann ich Ihnen nicht sagen. Wir haben Fasern gefunden, die in den Stoff seiner Kleidung eingedrungen waren und das Feuer überstanden haben. Ich lasse sie gerade untersuchen. Falls sie zu dem Typ Fasern gehören, die man gewöhnlich in Kofferräumen findet, kann man davon ausgehen, dass er zum Labor gebracht wurde, aber darüber kann man nur Vermutungen anstellen.«
»Wann ist eigentlich der Tod eingetreten?«, fragte Billie. »Können Sie sagen, wie viele Tage er schon tot war?«
»Da kann ich Ihnen kaum weiterhelfen.« Dr. Grace wies auf ein Sieb in einer Metallschüssel auf einem der Autopsietische. »Das ist seine letzte Mahlzeit«, sagte sie und zeigte auf Steakstückchen, Schalenfetzen von Backkartoffeln, Salat und Tomaten. »Er wurde maximal eine Stunde nach dem Essen getötet, aber wie lange das her ist, kann ich nicht sagen.«
Billie wandte sich an Jack Forester. »Können Sie mir so viel über ihn sagen, dass ich ihn mit einer Liste vermisster Personen vergleichen kann?«
»Na ja, wir haben natürlich die Zähne. Der Kerl hatte behandelte Zähne. Brubaker ist nicht da«, sagte Forester. Harry Brubaker war forensischer Zahnmediziner und wurde normalerweise zu Autopsien hinzugezogen. »Wir sorgen dafür, dass er die hier auf den Tisch bekommt, sobald er aus den Ferien zurück ist. Aber er kann uns auch nicht wirklich weiterhelfen, solange wir nicht jemanden haben, mit dem er den Zahnstatus vergleichen kann.«
»Können Sie irgendwelche Rückschlüsse aus den Zähnen ziehen?«, fragte Kate, die ein paar Bücher aus Foresters Fachgebiet gelesen hatte.
»Sie geben uns einigen Aufschluss über das Alter von Mr. X«, antwortete er. »Wir wissen, dass jemand achtzehn oder jünger ist, wenn seine Weisheitszähne noch nicht durchgebrochen sind, und demnach ist dieser Kerl hier definitiv über achtzehn. Auch die Abnutzung des Skeletts hilft uns bei der Altersbestimmung weiter. Nun ist dies zwar sehr subjektiv, doch die Veränderungen an seiner Wirbelsäule sagen mir, dass er wahrscheinlich über dreißig war. Als Letztes habe ich die Form seines Beckens untersucht. Die Stelle, an der die zwei Hälften vorne zusammenlaufen, heißt Schambeinfuge, und die nutzt sich mit zunehmendem Alter ab. Ein Kerl namens T. Wingate Todd hat Beckenabdrücke von zahlreichen Leichen genommen, deren Alter bekannt war. Er hat herausgefunden, dass die Abnutzungsrate in einem ziemlich konstanten Verhältnis zur Altersstufe steht.«
Forester zeigte auf eine Tupperbox in der Nähe der Tür. Der Deckel stand offen, und Billie konnte verschiedene Abdrücke auf Schaumstoffunterlagen sehen.
»Ich hab die Todd-Abdrücke mit denen von Mr. X verglichen. Unter Berücksichtigung aller anderen Faktoren kann ich für Ihren Freund eine sehr subjektive Schätzung von ungefähr fünfundvierzig bis fünfundfünfzig Jahren machen.«
Forester wies auf die Nase des Skeletts.
»Zudem wissen wir, dass wir es mit einem Kaukasier zu tun haben. Die Nasenöffnung eines Asiaten ist oval, die eines Afroamerikaners breit und kurz. Bei Mr. X ist sie lang und eng. Ergo, ein Kaukasier. Das kann man auch an den Augenhöhlen erkennen. Bei Weißen haben sie die Form von Fliegerbrillen, bei Afroamerikanern sind sie eckiger und bei Asiaten runder.«
»Können Sie womöglich die Augenfarbe bestimmen?«, fragte Billie.
Forester schüttelte den Kopf. »Nicht bei einem Brandopfer. Die Augen brennen aus. Aber ich kann Ihnen die Körpergröße verraten.
Der Mann war zwischen einssiebzig und einsfünfundsiebzig. Das habe ich ermittelt, indem ich seine Tibia und sein Femur gemessen«, sagte Forester, indem er auf das Schienbein und den Oberschenkelknochen der Leiche zeigte, »und sie mit Tabellen verglichen habe, die aufgrund von Knochenmessungen an amerikanischen Opfern aus dem Zweiten Weltkrieg und dem Koreakrieg erstellt wurden.«
»Demnach haben wir es wahrscheinlich mit einem fünfundvierzig bis fünfundfünfzig Jahre alten Weißen männlichen Geschlechts von zirka einssiebzig bis einsfünfundsiebzig Körpergröße und durchschnittlich schwerem Knochenbau zu tun«, fasste Billie zusammen.
»So ist es«, erwiderte Forester. »Finden Sie Kandidaten, auf die das passt, und mit Hilfe seines Zahnstatus und Brubakers Expertise können wir mit Sicherheit seine Identität bestimmen.“
DREIZEHN
Nachdem er Kate abgesetzt hatte, fuhr Daniel nach Hause und fiel ins Bett. Ein Labor in Flammen, vollgestopft mit brüllenden Affen und entstellten Kindern geisterte durch seine Träume, und mehr als einmal fuhr er aus dem Schlaf hoch. Als er am nächsten Morgen zur Arbeit erschien, war er blass und hatte dunkle Ringe unter den geröteten Augen. Er rief seine Mails ab und fand eine Nachricht von Renee Gilchrist, die ihn wissen ließ, dass Arthur Briggs ihn um elf in seinem Büro erwarte. Das wars denn wohl, dachte Daniel. Er sank in seinen Schreibtischsessel zurück und sah sich in seinem Büro um. In seinem Hals bildete sich ein Kloß. Er hatte so hart gearbeitet, um es bis hierher zu schaffen, und alles, was er sich verdient hatte, würde ihm wegen eines Briefs von einer Seite Länge wieder genommen.
Um zehn Uhr fünfundvierzig stand Daniel auf, rückte sich die Krawatte zurecht und machte sich auf den schweren Gang zu Arthur Briggs' Büro. Renee meldete Daniel an und warf ihm einen mitfühlenden Blick zu.
»Sie können reingehen, und viel Glück!«
»Danke, Renee.«
Daniel straffte die Schultern und begab sich in die Höhle des Löwen - ein phantastisches Eckzimmer, das offenbar von einem teuren Innenarchitekten ausgestattet worden war. Nicht nur die Diplome von der juristischen Fakultät der Duke University und der University of Chicago sowie andere gerahmte Auszeichnungen für den Inhaber des Büros zeugten von Arthur Briggs' Größe.
»Nehmen Sie Platz, Arnes!«, sagte er, ohne Augenkontakt aufzunehmen.
Er las gerade einen Brief und schenkte Daniel eine volle Minute lang keine Beachtung. Als er endlich seine Unterschrift unter das Schreiben setzte und den Brief zur übrigen ausgehenden Post legte, betrachtete er seinen jungen Anwalt über den Schreibtisch hinweg mit einem unversöhnlichen Gesichtsausdruck.
»Haben Sie auch nur die geringste Vorstellung davon, welchen Schaden Sie mit Ihrer Inkompetenz angerichtet haben?«
Daniel wusste, dass keine Antwort von ihm erwartet wurde, und schwieg.
»Es hat gestern ein Soziustreffen gegeben, um über Ihre Situation zu beraten«, fuhr Briggs fort. »Es wurde beschlossen, dass Sie nicht länger für diese Firma arbeiten sollen.«
Obwohl er nichts anderes erwartet hatte, trafen die Worte Daniel schwer.
»Sie werden noch sechs Monatsgehälter beziehen und Sie können Ihre Krankenversicherung noch ein Jahr behalten. Das ist sehr großzügig, wenn man bedenkt, dass Ihr Fehler einen unserer besten Klienten Milliarden kosten kann.«
Er war gefeuert. Zuerst empfand Daniel Scham, dann verwandelte sich seine Scham in Wut, und er ging zum Angriff über.
»Was hier läuft, ist Schwachsinn, und das wissen Sie, Mr. Briggs.« Seine scharfen Worte erschreckten Daniel ebenso, wie sie Briggs in Erstaunen versetzten. »Sie feuern mich, weil Sie jetzt, wo Aaron Flynn von der Kaidanov-Studie weiß, einen Sündenbock brauchen. In Wahrheit kann die Entdeckung dieser Studie Reed, Briggs dabei helfen, nicht länger einer Firma zu dienen, die wir besser nicht mehr vertreten sollten.«
Briggs lehnte sich in seinen Sessel zurück, legte die Fingerspitzen zusammen und sagte nichts. Daniel setzte noch eins drauf.
»Ich glaube, dass Geller Pharmaceuticals Kaidanovs Ergebnisse vertuscht. Wussten Sie, dass die Polizei wegen einer Brandstiftung in einem Primatenlabor ermittelt, das auf einem Grundstück von Geller steht? In diesem Labor hat Kaidanov seine Versuche durchgeführt. Alle seine Affen sind tot. Und allem Anschein nach ist auch Kaidanov tot - ermordet. Sonderbarer Zufall, finden Sie nicht?«
Daniel hielt inne, doch Briggs starrte ihn nur weiter unverwandt an, als wäre er ein Insekt von geringem Interesse. Das Ausbleiben irgendeiner Reaktion auf die Nachricht, dass Geller mit einem Mord in Verbindung gebracht wurde, überraschte Daniel. Andererseits hatte Briggs ein Vermögen damit gemacht, eine undurchdringliche Miene zu kultivieren, und so schürte Daniel weiter.
»Kaidanov wird seit über einer Woche vermisst. Sein Haus ist durchsucht worden.« Daniel glaubte, bei Briggs ein Zucken zu bemerken. »Mr. Briggs, ich habe mir Kaidanovs Festplatte angesehen. Jemand hat versucht, die Primatenstudie zu löschen, aber ich habe sie gesehen.« Jetzt hatte er definitiv Briggs' Aufmerksamkeit gewonnen. »Die Ergebnisse erhärten die Schlussfolgerungen in Kaidanovs Brief. Ich glaube, es besteht durchaus die Möglichkeit, dass Insufort sehr bedenklich ist und dass jemand, der mit Geller in Verbindung steht, versucht hat, Kaidanovs Bericht zu unterdrücken.«
»Woher wissen Sie, dass Kaidanovs Haus durchsucht wurde?“
Daniel schluckte schwer. »Ich war dort«, sagte er und erinnerte sich gleichzeitig daran, dass seine Durchsuchung des Hauses wie auch das Entwenden der Festplatte kriminelle Handlungen darstellten.
»Und dort haben Sie Dr. Kaidanovs Festplatte überprüft?« Daniel hatte das Gefühl, als würde ihn ein Laserstrahl durchbohren, und er konnte nachempfinden, welche Angst so manchen Zeugen bei Briggs berüchtigten Kreuzverhören überkam.
»Dazu möchte ich mich nicht äußern«, erwiderte er. »Ist es so?«
Daniel sagte nichts.
»Wir verstecken uns hinter Artikel fünf, Arnes, wie?« Ein furchterregendes Lächeln kräuselte Briggs' Lippen. Daniel saß in der Falle. »Offensichtlich kann ich Sie nicht zwingen, meine Fragen zu beantworten, aber die Polizei kann es. Was wird Ihrer Meinung nach passieren, wenn sie erfährt, dass jemand die Festplatte aus Kaidanovs Computer gestohlen hat und ich ihnen von Ihrem Geständnis erzähle, in seinem Haus gewesen zu sein und sich ebendiese Fest-platte angesehen zu haben?«
»Ich ... ich hab das für unseren Klienten getan.«
Noch während er die Worte aussprach, wusste Daniel, dass seine Entschuldigung jämmerlich klang.
»Wie schön, es ist Ihnen also wieder eingefallen, dass es eine Anwalt-Klienten-Beziehung zwischen Ihnen und Geller gibt, auch wenn Sie nicht mehr für diese Firma arbeiten. Wenn Sie so viel wissen, dann wissen Sie auch, dass jedwede Information über Insufort auf Dr. Kaidanovs Festplatte Eigentum unseres Klienten ist.«
Briggs' Lächeln verschwand. »Ich will die Festplatte bis fünf Uhr auf meinem Schreibtisch sehen, Arnes.«
»Mr. Briggs ...«
»Wenn sie nicht bis fünf hier ist, werden Sie Ihren Krankenschutz und Ihre Abfindung verlieren und verhaftet. Ist das klar?«
»Was werden Sie wegen Insufort tun?«
»Meine Pläne gehen Sie nicht das Geringste an, da Sie nicht mehr für diese Firma arbeiten.«
»Aber Insufort schädigt Babys. Jemand bei Geller hat möglicherweise einen Mord begangen, um die Wahrheit zu vertuschen. Die Firma könnte der Mithilfe bei ...« Briggs stand ruckartig auf. »Diese Unterredung ist beendet«, sagte er und wies zur Tür. »Raus!«
Daniel zögerte und ging dann zur Tür. Als er den Raum durchquerte, staute sich die Wut in seiner Magengrube. Er öffnete die Tür halb und drehte sich dann noch einmal zu Briggs um.
»Seit der Anhörung war ich deprimiert und hatte Angst, meinen Job zu verlieren, denn es hat mir wirklich etwas bedeutet, für Reed, Briggs zu arbeiten. Aber vielleicht ist es zu meinem Besten. Ich glaube nicht, dass ich für eine Firma arbeiten will, die bereit ist, von Geller begangene Verbrechen zu vertuschen. Hier geht es um kleine Kinder, Mr. Briggs! Ich weiß nicht, wie Sie noch in den Spiegel sehen können.«
»Jetzt hören Sie mir mal gut zu!«, brüllte Briggs. »Wenn Sie irgendjemandem auch nur ein Sterbenswörtchen von dem erzählen, was Sie mir gerade aufgetischt haben, dann werden Sie wegen übler Nachrede hinter Gitter kommen. Und wer wird wohl einen mittellosen, aus der Anwaltskammer ausgeschlossenen und vorbestraften Anwalt einstellen? Und jetzt endlich raus!«
Erst als Daniel die Tür zu Briggs' Büro zugeschlagen hatte, sah er, dass er Publikum gehabt hatte. Renee Gilchrist und eine unscheinbare Frau mittleren Alters, in der Daniel Dr. April Fairweather wiedererkannte, starrten ihn mit offenem Mund an. Daniels Zorn verwandelte sich in Verlegenheit. Er murmelte eine Entschuldigung und eilte zu seinem Büro.
Er hatte es fast erreicht, als ihm einfiel, dass die Festplatte bei Kate war. Er wollte gerade zu ihrem Büro gehen, als er sah, dass vor seiner Tür ein Wachmann stand. Er ging das letzte Stück schneller. Sobald der Wachmann auf ihn aufmerksam wurde, versperrte er ihm den Weg.
»Ich arbeite hier«, sagte Daniel. »Was soll das?«
»Tut mir Leid, Mr. Arnes«, sagte der Mann höflich, aber bestimmt, »Sie können nicht rein, bevor wir fertig sind.« Daniel warf einen Blick über die Schulter des Wachmanns. Ein zweiter Angestellter leerte gerade Daniels Akten in eine Kiste.
»Was ist mit meinen Sachen, meinen persönlichen Dingen, meinen Diplomen?«
»Die können Sie haben, sobald wir durch sind.« Der Wachmann streckte seine Hand aus. »Ich brauchte dann noch Ihre Schlüssel.«
Daniel war zutiefst gedemütigt. Er wollte kämpfen, protestieren, brüllen, dass er Rechte habe, aber er wusste, dass er nichts machen konnte, und so händigte er ergeben seine Büroschlüssel aus.
»Wie lange wird das noch dauern? Ich möchte hier raus.«
»Wir sind gleich fertig«, erwiderte der Wachmann.
Hinter ihnen bildete sich eine Traube von Kollegen. Joe Molinari legte Daniel die Hand auf die Schulter.
»Was ist los, Arnes?«
»Briggs hat mich rausgeschmissen.«
»Oh, Scheiße.«
»Es kam nicht überraschend. Seit der Befragung Schroeders hab ich das kommen sehen.«
»Kann ich irgendetwas für dich tun?«, fragte Joe.
»Danke, aber es ist aus. Briggs brauchte einen Sündenbock, und das bin nun mal ich.«
Molinari drückte ihm mitfühlend die Schulter.
»Hör mal, ich kenne eine Reihe Leute. Ich werd mich umhören. Vielleicht kann ich was für dich auftreiben.«
»Ich weiß dein Angebot zu schätzen, aber wer wird mich einstellen? Was glaubst du, was für ein Empfehlungsschreiben ich von Briggs bekomme?«
»So darfst du nicht denken. Briggs kontrolliert nicht jede Kanzlei in Portland. Du bist gut, Amigo. Die Firma, die dich kriegt, kann sich glücklich schätzen.«
»Ich bin mir nicht mal sicher, ob ich überhaupt weiter juristisch tätig sein will, Joe.«
»Sei kein defätistisches Arschloch! Das ist wie Polo. Wenn du abgeworfen wirst, bleibst du nicht einfach am Boden liegen und suhlst dich in Selbstmitleid. Du siehst zu, dass du deinen Hintern wieder in den Sattel bekommst, und spielst weiter. Ich geb dir einen Tag zum Trübsalblasen, und dann lassen wir uns was einfallen, wie du wieder bis in die Puppen arbeiten und dich von intellektuellen Nieten ausnutzen lassen kannst.«
Daniel musste unwillkürlich lächeln. Dann kam ihm Kate in den Sinn.
»Kann ich dein Telefon benutzen? Sie lassen mich nicht mehr in mein Büro.“
»Klar.«
»Danke, Joe, für alles.«
»Oh, Mann, du beschämst mich.«
Daniel schüttelte den Kopf. »Alter Trottel.«
Joe lachte, und sie machten sich auf den Weg zu Molinaris Büro. Als sie die Tür erreichten, drehte sich Daniel zu seinem Freund um.
»Das ist ein vertrauliches Gespräch, okay?«
»Schon verstanden.«
Daniel machte die Tür hinter sich zu und wählte Kates Büronummer. Joe hielt draußen Wache.
»Ich bins, Daniel«, sagte er, sobald sie abnahm. »Sind Sie allein?«
»Ja, wieso?«
»Briggs hat mich gefeuert.«
»Oh, Daniel, das tut mir so Leid.«
»Kann nicht sagen, dass es überraschend gekommen ist.«
»Sie sollten was dagegen unternehmen.«
»Ich bin nicht sicher, ob ich den Job zurückhaben will, selbst wenn es gelänge. Wirklich, vielleicht war es das Beste so.«
»Wie können Sie so was sagen?«
»Ich hab Briggs gesagt, Geller vertuscht möglicherweise die Tatsache, dass Insufort Fehlbildungen verursacht. Er hat mir gedroht, mich verhaften zu lassen, mich vor Gericht zu bringen. Es hat ihn nicht die Bohne interessiert, dass Geller das Leben dieser Kinder und ihrer Eltern ruiniert. Also fragt es sich, ob ich den Job bei Reed, Briggs angenommen hätte, wenn ich gewusst hätte, dass ich meine juristische Ausbildung dazu benutzen würde, einen Hersteller zu schützen, der aus Profitsucht Leben zerstört. Aber das ist nicht der Grund, warum ich anrufe.
Nachdem Briggs mir gesagt hatte, ich wäre gefeuert, konnte ich nicht mehr klar denken, und ich hab ihm erzählt, dass ich Kaidanovs Festplatte habe. Er will sie bis fünf Uhr auf dem Tisch haben, sonst zeigt er mich an.«
»Sie haben hoffentlich nicht...?«
»Nein, ich hab Sie mit keinem Wort erwähnt. Er hat keine Ahnung, dass sie bei Ihnen ist, und ich möchte sicherstellen, dass er es auch nicht herausfindet. Kann ich sie rechtzeitig bekommen? Briggs sagt, er bringt mich hinter Gitter, und ich sitz schon tief genug in der Scheiße. Und wir haben schließlich eine Kopie.«
»Was wollen Sie jetzt machen?«
»Ich weiß nicht, Kate, und ich bin noch zu durcheinander, um Entscheidungen zu treffen.«
»Ich bring Ihnen die Festplatte bis eins.«
»Danke.«
Für einen Moment herrschte Stille am anderen Ende, dann sagte Kate, »Sie sind ein anständiger Kerl, Dan, und anständige Leute fallen auf die Füße. Sie schaffen das schon.«
Daniel wusste die freundliche Einschätzung zu würdigen, aber er war sich nicht sicher, ob sie der Realität entsprach.
VIERZEHN
Sobald sie im Labor des Gerichtsmediziners fertig war, fuhr Billie Brewster auf dem Sunset Highway Richtung Westen. Zwanzig Minuten später nahm die Kriminalbeamtin eine der Ausfahrten nach Hillsboro und war schon bald in freier Natur. Eine grüne Hügelkette dehnte sich unter einem endlosen blauen Himmel und bildete einen malerischen Hintergrund zu dem Gebäudekomplex aus schwarzem Glas und Granit, dem Firmensitz von Geller Pharmaceuticals.
Die Hauptattraktion in Gebäude A war ein Atrium mit einem Wasserfall, der in einer Ecke der weitläufigen Lobby direkt unterhalb des getönten Glasdachs über drei Geschosse in die Tiefe stürzte. An der Rezeption erfuhr Billie, wo Kurt Schroeder sein Büro hatte. Über eine Treppe in der Nähe des Wasserfalls gelangte sie zum zweiten Stock. Eine verglaste Brücke verband das Hauptgebäude mit Gebäude B, in dem die Forschungs- und Entwicklungsabteilung untergebracht war.
Sekunden nachdem Billie Dr. Schroeders Sekretärin ihre Dienstmarke entgegengehalten hatte, fand sie sich auf einem Sessel gegenüber Gellers oberstem medizinischem Sachverständigen wieder.
»Dr. Schroeder, ich bin Inspektor Brewster vom Morddezernat Portland.«
»Morddezernat?«, fragte Schroeder nervös.
»Gestern Abend wurde ich zu einem Gebäude gerufen, das durch Brandstiftung zerstört wurde. In dem Gebäude befanden sich etwa zwanzig tote Rhesusaffen. Sie verbrannten in ihren Käfigen.«
»Das ist schrecklich, aber was hat das mit mir oder Geller Pharmaceuticals zu tun?«
»Wie sich herausstellte, ist Geller der Eigentümer des Grundstücks, auf dem der Bau stand. Wir glauben, dass es sich dabei um ein Primatenlabor gehandelt hat.« Schroeder furchte die Stirn. »Unsere gesamte Forschung findet hier in diesem Gebäude statt. Wir besitzen zwar außerhalb dieses Komplexes noch Land für eventuelle spätere Erweiterungen, aber es ist nicht erschlossen. Wenn Sie dort ein Labor gefunden haben, ist es keins von Geller.«
»In dem Labor wurde eine Leiche gefunden, Dr. Schroeder. Sie war weitgehend verbrannt, doch wir konnten zumindest feststellen, dass es sich dabei um einen fünfundvierzig bis fünfundfünfzig Jahre alten Weißen handelt, und wir gehen davon aus, dass es Dr. Sergey Kaidanov sein könnte.«
»Kaidanov! Um Himmels willen! Er ist seit etwas über einer Woche verschwunden. Wir haben nach ihm gesucht. Das ist ja entsetzlich.«
»Hatte Dr. Kaidanov mit Primatenversuchen zu tun?« »Das ist ja das Problem. Die Kläger in einem Prozess, in den wir verwickelt sind, haben uns ein Schriftstück vorgelegt, das sich als ein Schreiben Kaidanovs erwies und in dem er behauptet, er würde für unsere Firma eine Primatenstudie durchführen. Aber nach Aktenlage haben wir ihn nie mit einer solchen Studie beauftragt.«
»Ein Anwalt von Reed, Briggs hat mir davon erzählt. Das ist der Grund, weshalb wir vermuten, das Opfer könnte Dr. Kaidanov sein.“
Schroeder schauderte. »Mein Gott, ich hoffe, nicht.«
»Sie können uns bei der Identifizierung helfen, indem Sie mir Dr. Kaidanovs Personalakte schicken. Wenn wir seinen Zahnstatus ermitteln könnten, würde uns das entscheidend weiterhelfen.«
»Ich will tun, was ich kann«, antwortete er, von dem, was er gerade erfahren hatte, offensichtlich äußerst betroffen. Brewster reichte Schroeder eine Lagekarte des zerstörten Gebäudes.
»Könnten Sie wohl nachprüfen, ob Ihre Firma auf dem Gelände ein Gebäude errichtet hat?«
»Natürlich. Ich werde Ihnen in ein, zwei Tagen eine Antwort zukommen lassen.«
Brewster stand auf. »Vielen Dank für Ihre Hilfe, Dr. Schroeder.«
»Das ist doch selbstverständlich.« Er hielt inne. »Ich hoffe, Sie irren sich in Bezug auf Kaidanov.«
»Das hoffe ich auch.«
Als Billie ins Justice Center zurückkam, warteten bereits mehrere telefonische Nachrichten auf sie. Irgendwo in dem Stapel befand sich auch eine Nachricht aus der Dienststelle für Vermisstenmeldungen. Obwohl sie wenig Zweifel hegte, dass es sich bei der Leiche um Kaidanov handelte, hatte sie vom Labor des Gerichtsmediziners aus bei den Kollegen angerufen und um eine Liste von vermissten Männern gebeten, auf die Foresters Beschreibung zutraf. Sie rief die Durchwahl der Vermissten-stelle an.
»Hey, Billie«, sagte Inspektor Aaron Davies, »Ich hab hier eine aktuelle Meldung für dich. Ein Typ namens Gene Arnold. Er ist Anwalt in Arizona. Sein Sozius Benjamin Kellogg hat ihn ziemlich genau um die Zeit als vermisst gemeldet, für die Sie sich interessieren. Er ist verschwunden, als er im Hotel Benson wohnte. Ich geb Ihnen Kelloggs Nummer.«
Billie wählte die Nummer mit der Vorwahl von Arizona. Die Telefonistin der Firma stellte sie zu Benjamin Kellogg durch, und Billie nannte ihren Namen und ihre Dienststelle.
»Haben Sie Gene gefunden?«, fragte Kellogg erwartungsvoll.
»Nein, aber ich wollte von Ihnen noch die eine oder andere Information einholen, damit ich Ihre Meldung bearbeiten kann. Können Sie mir sagen, warum Sie glauben, dass Mr. Arnold vermisst wird?«
»Ich weiß, dass er vermisst wird, und ich bin sicher, dass etwas passiert ist. Wir sind alle sehr besorgt um ihn.«
»Und wieso?«
»Er musste geschäftlich nach New York, das war am Sonntag, dem siebenundzwanzigsten Februar. Er wollte sofort zurückkommen. Ich hatte seine Flugnummer und alles, aber er kam nicht mit der Maschine. Dann rief er am Mittwoch, dem ersten März, aus Portland an. Er wollte mit mir sprechen, aber ich war gerade bei Gericht, und so hat er nur mit unserer Sekretärin Maria Suarez gesprochen.«
»Demnach war nicht geplant, dass er nach Oregon kommt?«
»Nein. Ich arbeite seit sechs Jahren mit ihm zusammen, Maria sogar noch länger. Soweit wir uns erinnern, hat er niemals irgendwelche Kontakte, sei es geschäftlicher oder privater Natur, in Oregon erwähnt.«
»Okay. Und was hat er zu Ms. Suarez gesagt?«
»Sie sollte mir ausrichten, dass er für ein paar Tage in persönlichen Angelegenheiten weg sei. Er hat wohl Maria nach seiner Post und nach Anrufen gefragt, dann hat er ihr seine Zimmernummer im Hotel Benson durchgegeben und gesagt, er würde sich wieder melden. Das Hotel rief am Dienstag, dem siebten März, an und sagte, Gene hätte nur bis Montag gebucht, hätte aber sein Zimmer noch nicht geräumt. Sie wollten wissen, ob er noch länger bleiben wolle. Ich hatte keine Ahnung. Der Chef des Sicherheitsdienstes sagte, sie würden Genes Sachen im Lager aufbewahren. In dem Moment bekam ich es mit der Angst zu tun, ihm könnte was passiert sein, und deshalb habe ich Ihre Vermisstenstelle angerufen.«
»Und seitdem hat niemand von ihm gehört?«
»Nein, nichts.«
»Ist Mr. Arnold verheiratet?«
»Er ist Witwer. Seine Frau ist ungefähr ein Jahr, bevor ich bei ihm eingestiegen bin, verstorben.«
»Haben Sie ein Foto von Mr. Arnold, das Sie mir schicken könnten?«
»Ich kann eins besorgen.«
»Gut. Ich brauche auch den Namen und die Telefonnummer von Mr. Arnolds Zahnarzt.«
Billie hörte, wie jemand tief einatmete.
»Sie glauben, er ist tot?«
»Ich habe keinen Grund zu der Annahme.«
»Sie sind vom Morddezernat, nicht wahr?«
Billie wollte Arnolds Sozius nicht beunruhigen, aber ganz offensichtlich war er schon höchst besorgt.
»Ja.«
»Ich bin nicht so naiv, Inspektor. Ich hab schon ein paar Strafprozesse geführt. Ich weiß, wofür ein Morddezernat den Zahnstatus braucht. Sie haben einen nicht identifizierten Toten, der Gene sein könnte.«
»Ich habe tatsächlich eine Leiche, aber ich bin ziemlich sicher, wer es ist.«
»Wieso rufen Sie dann bei mir an?«
»Es kommt schon mal vor, dass ich falsch liege, aber in diesem Fall wahrscheinlich nicht.«
Für einen Moment herrschte am anderen Ende Schweigen. Endlich sagte Kellogg: »Genes Zahnarzt heißt Ralph Hughes. Wenn Sie mir Ihre Anschrift geben, veranlasse ich, dass Ihnen Genes Unterlagen zugeschickt werden.“